interference
interference
eng
de
es
it
it
tr
 
px px px
I
I
I
I
I
I
 

px

impressum
contact
archive
px

 

px

 

pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 63. FESTIVAL DE CANNES I VON DIETER WIECZOREK I 2010

: : : : : :

Dokumentarisches, Dokumentarfiktionales und Antizipation des Realen

 

Cannes' erweitertes Spektrum

 

VON DIETER WIECZOREK

63. Festival de Cannes

Festival de Cannes

px
px

Der 1930 in Boston geborene Frederick Wiseman bleibt seiner Arbeitsweise in Boxing Club treu: geduldige Beobachtung. Ohne vorgefertigte These installiert er sich in einem Ambiente, einer Situation, einem Ort und scheint es seiner Kamera zu überlassen, eine Realität einzufangen, die sich mit der Zeit stets weiter differenziert, ohne sich zu einer resümierbaren Bilanz zu verdichten. Seine Filme sind in diesem Sinne, wie das Leben selbst. Was den Betrachter vielleicht am meisten verblüfft in diesem Boxclub, ist die Entdeckung, daß es sich vor allem um einen Kommunikationsort handelt, in dem Kinderwagen stehen, Gespräche über Tanz und Musik geführt werden, Gewalt verdammt und auch mal ein wenig gedöst wird, ein Ort, wo sich Jugendliche wie Alte einfinden. Zum zweiten verblüfft, daß hier weniger Kampfvorbereitungen, sondern eine reiche Choreographie der Bewegungen eingeübt wird, die Körpererfahrung und körperliches Grenzbewußtsein zum Ziel hat. Durch scheinbar endlose Varianten sportlicher Übungen formen sich hier athletische, selbstbewußte Körper, die sich nicht mehr beweisen müssen durch Draufschlagen. In den letzten 15 Sekunden öffnet Wiseman noch einmal seine Optik und gibt, nach dem angespannten Treiben, den Blick frei auf Himmelgewölk, Städtepanoramen im Abendlicht und eine schlichte, gezoomte Vollmondansicht. Es gibt, so sein letzter Kommentar, noch eine Welt jenseits der Körpernöte.

Plakativer dagegen ist die fiktiv nachgestellte Dokumentation des Cleveland Immobilienskandals, der dutzende Familien heimatlos hat werden lassen. Der Film entfaltet in Dialogen mit Opfern und Tätern, Advokaten und Ökonomen, über welchen strategischen Mechanismus das Spekulationsgeschäft angetrieben wird. Bereits Verschuldeten wird ein weiterer Kredit zur Hauserwerbung angeboten, der sie schnell in eine Sackgasse treibt, an deren Ende der Verlust ihrer gesamten Habe steht. Wall Street Spekulanten inszenieren dieses mit der Not spekulierende Szenarium über am Ort angeheuerte Anwerber, die von ihren Vertragsabschlüssen profitieren. Im Schnellverfahren angelernt, stammen die Kreditanbieter oft aus verarmten Verhältnissen und ergreifen diese ihre erste wirkliche Jobchance mit allem Nachdruck. Die wirklichen Investoren verschanzen sich hinter dem Argument, daß nirgends Zwang angewendet wird und Kapitalgewinnung nicht als krimineller Akt anzusehen ist. Eine Jury hat in Jean-Stéphane Brons vorwiegend als Gerichtsverhandlung inszeniertem Film darüber zu entscheiden, wer der Verantwortliche, wer der Schuldige ist. Diese Entscheidung hat weit reichende Konsequenzen für die Legitimität der Schuldeinforderung.

Wie im Kabinettspiel erklärt die französisch-schweizerische Koproduktion Cleveland contre Wall Street den Kapitalismus. Für den informativen Effekt könnte hier problemlos der Titel »besonders wertvoll« vergeben werden. Die kinematographische Qualität dagegen ist bestenfalls durchschnittlich. Das Mischprodukt Dokumentarfiktion ist ein perfides Gebilde, das beiden Seiten kaum wohl tut.

Als reine Fiktion, die allerdings Realität provozierend antizipiert und hochrechnet, präsentiert sich Hideo Nakata Chatroom. Die Protagonisten, allesamt Second Life Adepten, haben sich ihre je ganz eigene kleine Welt aufgebaut, in der sie sich weit wohler fühlen als in ihren intensitätslosen Realräumen. In dieser Welt der körperlos agierenden Zombies der dritten Generation, Wiederkehrer ohne gelebtes Leben, gibt es Begegnungsräume, wo Konflikte ohne Reserve ausgefochten werden. Ungebändigte und unkontrollierte Gefühle können hier ungehemmt zirkulieren. In diese Zonen jenseits allen Gesetzes entsteht eine neue Form von Opfern und Siegern, die zuweilen um Tod und Leben spielen. Beispielsweise dann, wenn erst Urängste und Traumata provoziert werden und dann der »konsequente« Selbstmord suggeriert wird.

Im aufschlußreichen Rekurs zum Restwert Realität wird plötzlich deutlich, in welch starkem Maße diese Kommunikationssüchtigen, Sieger und Verlierer, abhängig sind vom letzten Bezug: Internetanschlüsse und Eingangscodes. Die entscheidenden Gesprächspartner können augenblicklich und definitiv jederzeit verloren gehen. Das gesamte Zeitkonzept dieser Second Life Adepten transformiert sich in eine Hast nach Kommunikationssequenzen. In den virtuellen Szenerien vollzieht sich ein brutales, für Ausstehende völlig unzugängliches Spiel, das intensiver, radikaler und wirklicher erscheint als die nur als fad empfundene Realität, ein brutales Ringen um Ausschluß und Zulassung. Leben heißt hier wahrgenommen, Tod vergessen, genauer gesagt ausgeschaltet zu werden. Den eigenen (körperlichen!) Selbstmord zu inszenieren, und sei es auch nur für einen (potenziellen) »verstehenden« Beobachter, ist ein eigenartiges Schauspiel, das für Nichtverkabelte unwahrnehmbar unter der Grabplatte verschwindet. In Nakatas schöner neuer Welt erscheint der eigene Tod als Zugabe für einen Moment der Wahrnehmung. Er inszeniert eine höher potenzialisierte medialisierte Gesellschaft und inszeniert den Abgesang einer Zivilisation, der noch körperliche Kommunikation und Sichtbarkeit aufruhte. In der monadischen Virtualität gibt es den Tod, aber kein körperliches Leben zuvor. Es ist eine Welt der reinen Kommunikation, in der die Figur des abwesenden Psychoanalytikers auf die Spitze getrieben wird.

Suizidäre Gestimmtheit, hervorgerufen durch eklatanten Mangel an Sinn und Intensität eines Stadtrandschullebens, charakterisiert auch die Tage zweier junger Frauen in Jean Paul Civeyracs Film Des filles en noir (Die jungen Frauen in Schwarz). Als die Schülerinnen ausgerechnet noch ihrer Schulobligationen folgend auf die Figur Heinrich von Kleists stoßen, der gemeinsamen mit seiner Vertrauten aus dem Leben schied, ist der Katalysator entscheidend gesetzt. Die Frauen
stimulieren sich in stundenlangen Gesprächen, wenn physisch getrennt auch telephonisch, zum entscheidenden Akt. Die interessante Ambiguität in diesem französischen Werk ist jedoch immer dann evoziert, wenn Civeyrac Signale setzt, daß eine tiefe Liebesbeziehung der Frauen nach starken Zeichen sucht, die in dieser verworfenen Welt kein einfaches »Passer en act« mehr möglich erscheinen lassen. Statt ihre Liebe zu leben, statt einer empfundenen Faszination – selbst angesichts eines schlichten Sonnenaufgangs, die depressive Selbstmordkandidaten wohl kaum empfinden – Ausdruck und Konsequenz zu verleihen, wird der Moment nur als der richtige interpretiert, um endgültig anzutreten. Doch nur eine von beiden springt. Die andere hat von da an, so signalisieren die Schlußpartien in Civeyracs Werk, mit einem Schuldkomplex zu kämpfen, der erneut ein mögliches Leben verunmöglicht rouge

 

 

px

px

FESTIVAL DE CANNES

info

12 - 23 / 05 / 2010

Festival de Cannes

link
locarno
px
Home Festival Reviews Film Reviews Festival Pearls Short Reviews Interviews Portraits Essays Archives Impressum Contact
    Film Directors Festival Pearls Short Directors           Newsletter
    Film Original Titles Festival Pearl Short Film Original Titles           FaceBook
    Film English Titles Festival Pearl Short Film English Titles           Blog
                   
                   
Interference - 18, rue Budé - 75004 Paris - France - Tel : +33 (0) 1 40 46 92 25 - +33 (0) 6 84 40 84 38 -