So richtig rund läuft das Festival selbst am zweiten Tag wirklich
nicht. Nach den Gewalt- und Foltereskalationen des in mexikanischen
Mafiamilieu spielenden «Heli» Amat Escalantes, der mehr zum Wegschauen
einlud und die Frage nach der Berechtigung dieser Sequenzen ausserhalb
einer rein dokumentarischen Funktion aufwirft, perpetuiert auch der
zweite Spieltag mit seinem Wettbewerbsfilm «Tian Zhu Ding» von Jia
Zhangke (China) das Gewaltpanorama. Er bietet das schlicht kathasische
Muster von „Ein Mann sieht rot“. Gewiss wird man sich in der
zeitgenössischen chinesischen Gesellschaft über den Mangel an
Ausbeutung, Unterwerfung, Degradierungen und Bestechung nicht beklagen
könnten. Zhangke setzt hier einen Mann in Szene, der sich mit einem
Schrottgewehr als Einzelgänger zur Wehr setzt und all die ohne grossen
Dialogbedarf niedermäht, die die verarmten Minenarbeiter ihrer
Überlebensmöglichkeiten berauben. Gleich mit auf die Abschussliste
kommen all die Nebenfiguren, die nicht mehr als blosse Marionetten der
Macht sind oder selbst nur zynische Beisteher. Auch ein brutaler
Pferdeschinder, der sein Tier mit der Peitsche blutig schlägt, wird
mit beseitigt.
Weitere Gewalteinzelgänger treten auf. Eine junge Frau, von Männern in
einer Sauna sexuell attackiert, greift zum Messer und schafft sich
Freiraum. Gewalt als Antwort auf generalisierte permanente
Entwürdigung. Kündigt sich hier eine wirkliche Revolte in China an?
Für die planetare Arbeitsweltsituation, in der Chinas Erfolg der
Missachtung minimalster Sozial- und Menschenrechte geschuldet ist,
wäre dies ein Hoffnungsschimmer. Doch inszeniert als eine lediglich
affektive, private Racheaktion unter Druck liefert der Film nur einen
bloss imaginativen und imaginären Befreiungsschlag (gegen
Kassenzahlung), der in der virtuellen Kinowelt verklingt.

"The Bling Ring", Sophia Coppola |
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Sofia Coppolas (USA) neues Werk «The Bling Ring» wurde gleich in die Seitensektion «Un Certain Regard» verschoben. Eine Gruppe Teenager, allesamt gut informiert über Stars, Modeschauen und Luxusartikel, entdecken die Leichtigkeit, in die allesamt scheinbar unbewachten Villen einzudringen und sich dort frei zu bedienen. Der obszöne Reichtum, der sich dort angehäuft hat, schafft einige surrealer Bilder. Die Kids stammen allesamt aus wohlbehüteten, religiös pittoresken und wohlhabenden Familien, wo Erziehung mit Schrifttafeln praktiziert wird. Coppolas Film insistiert darauf, auf Tatsachen aufzuruhen. Trotzdem bleibt schwer verständlich, wie selbst wiederholte Einbrüche in die gleichen Villen möglich sind, als ob Alarmanlagen noch nicht erfunden seien und einige Türen der allesamt unbewachten Häuser auch noch permanent offen stehen. Erfahren tut man über die schlichten Gemüter der gutgelaunt Stehlenden wenig.
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Interessant wäre auch gewesen, wie sie die zum Teil erheblichen Summen von mehreren Hunderttausend Dollars je zurückzahlen konnten. Ihre Selbstkommentare beschränken sich auf das Niveau von Selbststilisierungen und Starallüren, mit nur einer kleinen kritischen Reflektion: die Amerikaner lieben halt das Bonnie-und-Clyde Modell.
«Fruitvale Station» von Ryan Coogler, ebenfalls in «Certain Regards»
präsentiert, legt den Akzent auf einen wunden Punkt der
US-Amerikanischen Gesellschaft. Die anhaltende missachtende Behandlung
von Farbigen in sozialen Konflikten, die in kritischen Situationen
die Form purer Gewalt annimmt. Cooglers Film ist dreigeteilt. Im
ersten Teil ringt ein junger, recht unbändiger farbiger Mann nach
seinem Gefängnisaufenthalt um seine Reintegration in die Normalität.
Kleine Unperfektionen kosten ihn allerdings seinen Job und bringen ihn
in Konflikt mit seiner Frau und Mutter. Der zweite Teil zeigt ihn als
liebevollen, verspielten, engagierten Familienvater, als Anwärter auf
ein bürgerliches, glückliches Leben, umsäumt von Familie und Freunden.
Im dritte, zweifellos wichtigste Teil ist ein einziges Showdown. In
der Metro wird er am Neujahrtag von einem einstigen Mithäftling
provoziert, in eine Schlägerei verwickelt und anschliessend durch
einen massiven und völlig überzogenen Polizeieinsatz «versehentlich»
erschlossen. Die Polizisten sind allesamt charakterisiert durch
rassistisches Agieren und ungehemmte Aggressionen. Leider verbraucht
das Werk in seinen ersten beiden Teilen zu viel Anlaufzeit. Das
finale, überzeugend ins Bild gebrachte Sujet macht den Film jedoch
sehenswert. Das us-amerikanische Schlüsselfestival Sundance ehrte den
Film mit dem Publikums- und Jurypreis.
Ein kleiner Höhepunkt ist dennoch zu erwähnen. Der italienische Film
«Miele» von Valerie Golino greift das Thema der aktiven Sterbehilfe
auf. Eine junge Frau stellt Mittel und Medikamente bereit, um
Todkranken und Todeswilligen den letzten Schritt zu erleichtern.
Golinos Film gewinnt seine Stärke durch eindringliche Szenen, die klar
machen, was es heisst, einem Todgeweihten in den letzten Momenten
beizustehen. Die Helferin gerät in eine Gewissenskrise, als ein
gesunder, brillanter älterer Mann aus reiner Lebensmüdigkeit ihren
Service anfordert. Es wäre kein italienischer Film, wenn hier nicht
die Chance einer sehr starken emotionalen Anziehung genutzt würde, die
fast zur Liebesgeschichte sich transformiert. Doch Golino gelingt es,
die Waage zu halten. Sie arbeitet mit überzeugenden, geistreichen
Dialogen und Reflexionen, mehr als das, mit immer wieder
eindringlichen Szenen und Einstellungen, die «Miele» als den
hervorragenden Film des Tages der Hauptreihen erscheinen lassen  |