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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 64. CANNES FILM FESTIVAL I VON DIETER WIECZOREK I 2011

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62. CANNES FILM FESTIVAL 2011

Arabesken des Unbehagens

 

 

 

VON DIETER WIECZOREK

"Melancolia", Lars Von Trier

Trabalhar Cansa

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Die wohl stärksten zehn Minuten des diesjährigen internationalen Wettbewerbprogramms, die raren Momente, wo man den Eindruck gewinnen konnten, es ginge hier dem Regisseur wirklich noch um innovative Bildsequenzen, bot die Eröffnungspassage von Lars von Triers’ Melancholia. Von Trier schafft ein Triangel von pathetischer Extrovertiertheit, begleitet von »Tristan und Isolde«-Klängen Wagners, fühlbar traumatisch-depressiver Erfahrung und dekonstruktiv ironischen Brechungen. In seinem Mittelteil fällt sein Werk in – allerdings hohe – burleske Unterhaltungskunst zurück. Von Trier zeigt genüßlich die Eskalation und Implosion einer großbürgerlich-aristokratischen Familie anläßlich eines pompösen Festes, ein Thema, das bereits in Thomas Vinterbergs Das Fest auf einen schwer zu übertreffenden Höhepunkt getrieben worden wurde. Paarglück, Ehewunsch und berufliche Karriere gehen hier im Strom anarchistischen Begehrens und apokalyptischer Ausschweifung den Bach hinunter. Die letzten Sequenzen, den Untergang des Planeten zelebrieren, knüpfen wieder an seinen starken Anfang an und verweben die Familiensaga in kosmisch-magische Dimensionen. Neben all der spektakulären Polemik, die sich bald darauf um seine Pressekonferenz entspann, war von Triers Film einer der wenigen, die zumindest den Versuch ästhetischer Partikularität wagten. Die Pressekonferenz selbst, für wenige Tage in voller Länge auf YouTube zugänglich, verschwand dann dort plötzlich wieder. Sie allein aber bietet die Grundlage, begreifen zu können, dass von Trier hier mehr ein Performance-Kunstwerk realisierte, als sich dem Modell der Pressekonferenz unterwarf, indem er alle Erwartungen einer (Skandal-) Presse antizipierte und in übersteigerter Form feilbot.

Goodbye

"Habemus Papam", Nanni Moretti

 

Nanni Moretti nimmt sich in Habemus Papam einem vor allem italienischen Problem an: dem Papst und den katholischen Würdeträgern. Er bringt eine Ansammlung überwiegend infantiler Kardinäle ins Bild, die sich im zeremoniellen Ablauf langweilend mit Volleyballspielen bei Laune halten, neben der Papstwahl vor allem um eines besorgt: die nächste Mahlzeit. Moretti zeigt einen einfachen, von Selbstzweifeln geprägten, um sein kaum gelebtes Leben wissenden, beunruhigten alternden Mann, hervorragend verkörpert durch Michel Piccoli, der zum Papstnachfolger gewählt nur panisch die Flucht aus dem Vatikan in die Gassen Roms ergreift. Von einigen drolligen Sentenzen abgesehen, die zumeist von Moretti selbst, in der Rolle des zu Therapiezwecken des Papstes in den Vatikan berufenen Psychoanalytikers, geliefert werden, reicht der Film kaum über das Niveau des Amüsanten hinaus.

Aki Kaurismäkis sozial unterkühltes Understatement, seine reduktive Verdichtung auf Minimalgesten und exemplarische Situationskonfiguration, haben einen unvergleichlichen Filmstil geprägt. Sein jetziger Film Le Havre macht da keine Ausnahme. Er verblüfft lediglich durch eine neue Nuance von Leichtigkeit und Humor als einer Art Apercu auf dem gleichen unverleugneten Grund sozialer Härte und Ungerechtigkeit.

Der vielleicht komplexeste Film des Wettbewerbs, der weniger durch eine Story als durch atmosphärische Gestaltung überzeugt, kam aus der Türkei. Bir Zamanlar anadolu (Once upon a time in Anatolia) von Nuri Bilge Ceylan entfaltet an der Grenze Anatoliens ein Gewebe aus alltäglichen Dialogen zwischen Polizisten, Richtern, Medizinern und anderen Funktionsträgern, die zuweilen sich zu wirklichen Existenzfragen verdichten. Wage Erwartungen und Ängste verdichten sich hier zu einer Metapher der Verunsicherung angesichts eines lediglich erahnten globalen Wandels. Er porträtiert eine statische, von wirklichen politischen Entscheidungen ausgeschlossene Gesellschaft. Unfrohe, desorientierte, zwischen Vorurteilen und Halbwissen lavierende Protagonisten suchen die Fragmente ihrer Lebensorientierung in kleinen Ritualen und Traditionen. Ceylan zeigt eine Türkei fern eines kapitalgeprägten Europa, stagnierend, ohne Projekt und Begriff von sich.

 

Goodbye

"Once Upen A Time In Anatolia", Nuri Bilge Ceylan

Feuchtigkeit, Kälte und nächtliche Szenarien umschreiben ein emotional-mentales Gefüge des Unbehagens, eines Schattendaseins ohne Horizont.

Die wirklichen Höhepunktes des Cannes Festivals wird man außerhalb des Wettbewerbs suchen müssen. Verschwand jemals ein sehr erfolgreicher Filmemacher völlig von der Bühne, um sich Jahre später mit einem solitär mit eigener Digitalkamera aufgezeichneten Film zurück zu melden, der vor allem von seinen Ängsten und Zweifeln spricht? Der Südkoreaner Kim Ki-Duk kehrt nicht mit einer triumphaler Geste der Läuterung wieder, deklariert sein Schweigen nicht zur Stärke, sondern spürt den eigentlichen Gründen seines Abbrechens nach, schmerzhaft aufrichtig, zuweilen an die Grenze ungehemmter Extrovertiertheit gehend. Mit Arirang eines der konzeptuell innovativsten Werke des Festivals, das seine Platz in der Seitensektion »Un Certain Regard« fand. Schuldgefühle aufgrund zu riskanter Szenen, die einen Unfall provozierten, Enttäuschungen über den Verrat ehemaliger Produzenten klingen ebenso an wie Zweifel an einem aufwendigen Lebensstil, von dem sich Kim Ki-Duk in ein abgelegenes, schlecht beheiztes Barackenhaus zurückgezogen hat. Dort filmt er sich selbst, Konserven verspeisend und ein wenig Wärme findend in einem Zelt, das er in einem der Räume dort aufgestellt hat (allerdings ausgestattet mit Computer- und Internetanschluß). Hier führte er ein auf unbestimmte Zeit angesetztes karges Leben. Man sieht ihn winseln und heulen, tägliche Arbeiten verrichtend, grübelnd und zweifelnd. Das Publikum in Cannes nahm sein Werk mit großem Respekt auf, das weit mehr als bloße Selbstdarstellung eine Deklaration des Unbehagens in der aktuellen Konsumgesellschaft ist, die Kultur ebenso verschlingt wie planetare Reserven. Sein Film teilte sich mit Andreas Dresen Halt auf freier Strecke den Hauptpreis der Sektion.

Unbehagen an der urbanen Kultur ist Thema auch in dem norwegischen Beitrag Oslo, 13. August Joachim Triers’. Hier kehrt ein Ex-Rauschgiftsüchtiger in seine ursprüngliche Umbebung zurück, wo er wieder Anschluß finden will an eine verlorene Normalität. Was er jedoch um sich herum beobachtet ist ein mechanisiert sinn- und freudenfernes Treiben. Selbst seine selbstsicher und erfolgreich erscheinenden Freunde drehen bei genauerem Blick nur Arabesken auf einem existenziellen Abgrund. Da der Protagonist ein hoch sensibler, belesener, zur genauen Beobachtung und Mitempfindung fähiger Mann ist, der die Erwartungen immer schon kennt, denen er letztlich nicht gerecht werden kann, da ihm alles Rollenverhalten fremd scheint, ist sein suizidäres Ende von Anfang an vorprogrammiert. Von seiner Ex-Geliebten verstoßen, die erst gar nicht Komplikationen riskierend zum Rendezvous erscheint, läßt Trier den jungen Mann in einer Gesellschaft zirkulieren, die weder für wirkliche Glückserfahrungen noch für anspruchsloses Zusammensein Raum bietet. Sämtliche sozialen Kontakte sind funktionalisiert, erstarrt zur Repräsentation erfolgreicher Lebensstile. Kastrierte Partyorgien signalisieren Transgressionen, wo nur artifizielle Betäubung der Maskenträger statthat. Das Versprechen eines möglichen Lebens schlägt fehl für den jungen Mann, der zuletzt, dem Funktionalitätsanspruch nachkommend, einige Aufgegabelte zum Swimmingpool seines Hauses einlädt, um dort mit der Illusion aus dem Leben zu scheiden, nicht ganz allein zu sein.

Unbehagen ist auch der Grundton in Juliana Rojas und Marco Dutras aus Brasilien kommenden Film Trabalhar cansa (Harte Arbeit). Aktionszentrum ist hier ein abgelegener Supermarkt, hinter dessen fragilen Wänden unheimliche Geheimnisse auf ihr Hervorbrechen warten. Drohende materielle Verarmung hat die Degradierung sozialer und familiärer Beziehungen zur unmittelbaren Folge, die von Rojas und Dutra zu einer atemberaubenden Kulisse der Angst verdichtet werden. Rojas und Dutras kristallines Werk gewinnt seine Stärke durch Ereignisreduktion. Lebensangst wird im Schweigen und der subtilen Beobachtung kleinster Gesten weit eher spürbaren als in elaborierten Diskursen.

Eine weitere Variante des Unbehagens prägt Take Shelter von Jeff Nicols, der mit dem Grand Prix Nespresso geehrt in der »Semaine de la Critique«-Sektion gezeigt wurde. Hier leidet ein Mann an wiederkehrenden Alpträumen über alles zerstörende Tornados und öligem Regen. Trotz nicht zu übersehender Vorzeichen, die an Hitchcocks Filmkunst erinnern, wird der Mann von niemand ernst genommen und beginnt auf eigenen Faust im eigenen Garten einen Bunker zu bauen. Seine letzte Freundschaft und seinen Arbeitsplatz riskiert und verliert er dabei. Von seiner Ortsgemeinschaft immer mehr ausgestoßen und selbst von seiner Familie mit zunehmenden Misstrauen betrachtet, scheint schließlich nur eine Psychotherapie als eine Lösung, besonders da halluzinative Störungen bereits in seiner Familiengeschichte auftraten. Da kündigt sich ein Sturm an, die dem Außenseiter zunächst Recht zu geben scheinen, der erneut in eine traumatische Phase eintritt, die zu überwinden seine Frau ihm in einer dramatischen Szene abverlangt. Hier ließe sich nun ein übliches us-amerikanisches Happy End einstylen. Doch Nicols schafft ein überraschendes, gänzlich anderes Ende, das zeigt, in welchem Masse das Bewußtsein wirklicher Katastrophen sich mittlerweile auch in den USA auszubreiten beginnt. Die Bewältigung durch psychologische Betreuung erscheint nun plötzlich doch als wenig hilfreich, wo eine außer Kontrolle geratene Realität die Ängste der Imagination bei weitem zu überschreiten beginnt.

Zwei Höhepunkte in der »Quinzaine des Réalisateurs«- Sektion waren Ruben Östlunds Film Play und Karl Markovcs Atmen Hier schafft der Österreicher, zumindest in seinem ersten Teil, eine vergleichbare Dramaturgie wie Rojas und Dutras in Harte Arbeit. Das Leben eines jungen inhaftierten Mannes wird als Spießrutenlauf der Demütigungen dargestellt. Zu Rehabilitationszwecken akzeptiert er eine Lehre als Leichenbestatter, wo er ebenso verhöhnt und einem ununterbrochenen Unterwerfungsstreß ausgesetzt wird wie in der Anstalt oder durch seinen Vater. Hinzu kommt die schockende Erfahrung der Banalität des Todes und der Totenbeseitigung, die zum Alltag seines Jobs gehört. Doch in Markovs Film ereignet sich ein überraschender Umbruch. Durch die permanente Konfrontation mit dem Tod beginnt sich der junge Mann zu läutern. Er findet nicht nur zu einer neuen Kraft, sich gegen plumpe Anfeindungen zu behaupten, sondern auch zur Konfrontation mit seiner eigener Schuld. Er sucht einen neuen Zugang zum Leben, und diese Suche scheint nicht ausweglos.

Wiederum eine andere Variante des Unbehagens lieferte Play des Dänen Ruben Östlunds. Zwei Jugendliche finden sich umstellt von einer Gruppe, die sich mittels rhetorischer Vorwände zunächst ihrer Telefone bemächtigt, dann Schritt für Schritt, in einem stets zwischen Ernst und Spaß schwebenden Ton, immer weitere Tribute der Unterwerfung abverlangen. Wegen des Mangels manifester Aggression bleibt das Geschehen über die ganze Filmlänge hinweg in der Schwebe. Jedes Ende scheint möglich. Konstant ist lediglich das Gefühl der Ausgesetztheit und Abhängigkeit gegenüber den älteren Jugendlichen, die genüßlich und spielerisch ihre Machtposition ausspielen, auf eine Weise, die zuweilen auch die weit härteren Szenarien in Hanekes Funny Games erinnern. Während der eine der beiden Gefangenen auf Anpassungs- du Unterwerfungskurs geht, versucht sein Kamerad – vergeblich – zu fliehen. Östlund schafft einerseits eine beeindruckende Studie über Ausgeliefertheit im exemplarischen Modellformat, andererseits eine über die perfide Kunst, Macht durch rhetorische Transformation als »Spiel« zu deklarieren, das eine noch größere Genußausschütterung garantiert rouge

 

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64. CANNES FILM FESTIVAL 2011

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11 - 22 / 05 / 2011

Festival de Cannes

Melancolia

Habemus Papam

Once Upen a time in Anatolia

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