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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 71. CANNES FILM FESTIVAL I Das Recht der Rechtlosen und die Rechtlosigkeit des Staates I VON DIETER WIECZOREK I 2018

CANNES 2018

Das Recht der Rechtlosen und die Rechtlosigkeit des Staates

In Cannes: Frankreich verliert gegen sein eigenes Recht

VON DIETER WIECZOREK

"Libre", Michel Tuesca

Libre Michel Tuesca

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Jeden Tag strömen Migranten von Italien nach Frankreich. Minderjährige und Asylsteller haben das Recht auf Hilfestellung. Faktisch jedoch werden sie jeden Tag gegen explizites Recht auf die italienische Seite zurück transportiert.

Doch Widerstand regte sich. Im Roya Tal, eine von Italien umgrenzte französische Enklave,  begann der Farmer Cédric Herrou, schlicht sich auf Menschenrechte berufend, Migranten auf seinem Gelände zu beherbergen, zeitweiligen Schutz, Unterkunft und Nahrung zu bieten, wenn möglich, auch auf andere, dauerhaftere Weise hilfreich zu sein, beginnend mit Hilfestellungen beim Erstellen eines Asylantrages. Menschen in Not zu sehen und zu helfen, einer der fundamentalsten humanen Akte, wird heute jedoch zu einer kriminellen Handlung, selbst wenn sie im Einklang mit geltendem Recht stehen.

Herrou blieb nicht der Einzige. Weitere Farmer öffneten ihre Türen und Ländereien. Gegen die allgemeine politische Apathie, die Unrechtmässigkeit als Normalzustand gelten lässt, artikulierte sich erneut eine der grössten politischen Errungenschaften in der Geschichte Frankreichs, die Citoyennité, die Instanz eines selbstbewussten, informierten Bürgers, der aktiv wird und sich für die Rechte Anderer einsetzt, vor allem die der Rechtlosen.  Asylbewerbern,  Kleinkindern, Elternlose, Kranke, ihnen zuallererst gilt es Schutz zu geben. Der übliche Rücktransport nach Italien hiesse lediglich, ihren fragilen Status noch weiteren Risiken auszusetzen. Ein Problem erkennen und handeln, nicht auf die Reaktion oder Hilfe des Staates warten, dies ist die - potenziell anarchischen -  Triebfeder des Citoyen. Hier wird nicht Rechtlosigkeit prolongiert, sondern Autarkie, ein positiver Ungehorsam, wenn Unrecht zur geduldeten Praxis wird, eine Eigenverantwortlichkeit im Sinne der Grundwerte der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Libre Michel Tuesca

"Libre" Michel Tuesca

 

Herrou wurde juristisch angeklagt, ein Risiko, dass ihn nicht einschüchterte. Mittlerweile hatte seine Aktionen Echo in den Medien gefunden. Seitdem fehlte es ihm nicht an Unterstützung. Drei Jahre begleite ihn der Dokumentfilmer Michel Tuesca in seinem Alltag, der ihm zur Farmarbeit nur noch wenig Zeit liess. Die Ereignisdichte bedurfte keines Drehbuches. Man sieht Herrou in TV-Diskussionen in France 2 im Dialog mit Premierminister Manuel Valls oder dem „Prokurator der Republik“ samt dem Polizeipräfekten erklärend, dass die gewaltsamen, inkompetente Handlungsweise des Staates ihm und seinen Mitstreitern keine Wahl lies als die des Widerstandes.

Tuesca filmte «Libre» („Frei“) ohne Team, mit Handkamera, improvisierend, und wenn es heikle Situationen erforderten, auch mit dem Handy. Bereits vor Drehbeginn 2015 lebte er im Royatal, war bereits seit dem Jahr 2000 mit Herrou bekannt und bald befreundet. Filmen und aktive Teilnahme an den Aktionen gingen eins in eins. Auch Feste, Freudensaussprüche und nachdenkliche Momente dieses Borderlinelebens jenseits des Sicherheitstrapezes, finden Eingang in seinen Film. Leitmotiv jedoch blieb stets der ungebrochene Wille, das Schutzrecht zu verteidigen.

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In der italienischen Nachbarstadt Vintimilla wurden es 2015 seitens der Stadtleitung verboten, angesichts der anstrandenden Migrantenwellen verboten, Nahrung an die Hilfsbedürftigen zu verteilen. Improvisierten Zeltlager wurden abgerissen. Auf französischer Seite bildete sich die „Defence des citoyen du monde“ (Verteidigung der Weltbürger). Auch die « Medicins du monde » leisteten ihren Beitrag. Der Pulitzerpreisträger der New York Times, Adam Nossiter, machte Herrouzur Titelfigur einer Ausgabe. Er wurde zur medialisierten Schlüsselfigur, dem schliesslich auch der Premierminister Rede und Antwort stehen musste. Dies jedoch beendete keineswegs die illegale Abschiebungspraktiken, sondern befriedigte nur das erweckte «öffentliche Interesse», das bekanntlich wenig dauerhaft ist. Die juristische Anklage der Hilfestellung bei illegaler Einwanderung und potenzieller Terroristen wurde aufrecht erhalten. Auch die Bevölkerung spaltete sich in Pro und Contra.

Als sein eigenes Grundstück nicht mehr ausreichte, wo sich bereits über 80 Personen aufhielten, wurde ein verlassenes staatliches Verwaltungsgebäude besetzt. Drei Tage darauf wurde es von 200 Polizeibeamten aufgelöst. Herrou wird zum dritten Mal inhaftiert. Mit 3000 Euro kauft er sich als Vorbestrafter frei. Im April 2017 schien sich eine Wende abzuzeichnen. Der Präfekt und die lokale Polizei durch das administrative Tribunal wegen schwerwiegender Unterlassung der Anwendung des Asylrechts verurteilt. Die einzige lächerliche Konsequenz: die Präfektur erlaubt es nun Herrou, täglich zehn Asylsucher von Roya nach Nizza zu bringen. Alle anderen Hilfeleistungen riskieren weiterhin juristische Verfolgung. Auch das französische Tribunal scheint unfähig, französisches Recht durchzusetzen.

Herrou und seine Mitstreiter entscheiden sich für einen dreitägigen Fussmarsch mit einem Hundert Migranten von Roya nach Nizza. Daraufhin werden Herrous Ländereien von Militär und Polizei eingeschlossen. Das mittlerweile heillos überfüllte Tal wird systematisch überwacht. Erneut demonstriert Frankreich sein gespaltenes Recht und verurteilt ihn zu vier Monaten Haft. Auch weitere Aktivisten werden mit Haftstrafen belegt.

Massive Polizeikontrollen führten dazu, dass die Migrantenströme ihre Richtung änderten und andere Täler nutzen. Einige der Hilfesuchenden leben immer noch auf Herrous Gelände und helfen aus. Sie sind gewillt, am Ort ein neues Leben zu beginnen. Herrou gründete eine neue Assoziation mit dem Ziel, soziale und ökonomische Projekte für Exilanten zu schaffen. Regelmässige Debatten mit Spezialisten,  Politikern Juristen und Prominenten sind Teil dieser Aktivität.

Im Royatal kristallisiert sich die Europäische Paradoxie der gesetzmässigen Installation des Unrechts. Jahrzehntelang duldete und profitierte die westliche Welt von der Unterentwicklung und paktierte mit diktatorischen Systemen zugunsten ihrer Interessen. Als diese zerbrachen, war es erneut Common sense der etablierten Weltmächte, den zerrütteten Ländern nicht zur Souveränität zu verhelfen, sondern Waffengeschäfte mit zerstrittenen militanten Lagern zu betreiben, die das Desaster noch beschleunigten. Die Notwendigkeit umfassender schulischer, wissenschaftlicher, technologischer, kultureller und politischer Ausbildung, Schüsselpunkte für eine lebensfähige Demokratie, fand kein Echo im Westen, weder in der Öffentlichkeit noch seinen politischen Instanzen. Nun stehen Hunderttausende Opfer ihrer zerstören Länder vor den Toren der Profiteure, und erneut riskiert man hier eher deren Tod, als einen Modus vivendi des Lebensschutzes zu organisieren. Das Konzept, das lediglich das Land der Ersterfassung für einen Migranten zuständig ist und bleibt, belastet selbstredend einige der Europäischen Partner im unvergleichbaren Masse und war niemals eine akzeptable oder realisierbare Lösung. Was in „Libre“ am Fallbeispiel gezeigt wird, reproduziert sich vielfältig an europäischen Grenzen.

 

Libre Michel Tuesca

"Libre", Michel Tuesca

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In diesen Tagen wird die ethischer Perversion noch zur zynischen Spitze getrieben durch die Anklage des Kapitäns der «Lifeline»,  Menschen aus Seenot im Mittelmeer gerettet zu haben. Selbst lebensrettende Massnahmen werden nun diskriminiert. Beobachtungsflüge,  die Menschen in Seenot aufspüren und zu ihrer Rettung beitragen können, werden ausgesetzt.  Warum sich das selbst inszenierte Desaster auch noch anschauen? Damit schreibt sich Europa sein eigenes Testamentals Moral- und Wertehüter. Es bleibt nur noch die Antwort des Citoyens rouge

 

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08 - 19 / 05 / 2018

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