Von Altersmilde kann in Godards Fall wohl kaum die Rede sein. Er ist „auf der Seite der Bombe“, im einem nicht metaphorischen, sondern unmittelbar politischen Sinn. Hier würde, wäre es nicht Godard, schnell die Verfemung „Terrorismusbefürworter“ Raum greifen, die übliche, unreflektierte Applikation einer hypokriten Staatsideologie. Godard lässt sich davon kaum beeindrucken. Er setzt eine technische Experimentierfreudigkeit in Szene die es aufgrund seiner Autorität in Cannes selbst in den Wettbewerb schafft. Gleichzeitig transformiert er durch seine Direktiven eine klassische Pressekonferenz in eine Performance. Journalisten stehen Schlange, um dem Meister ihre Frage vorzulegen. Seine Präsenz ist auf den Minibildschirm eines Smartphones beschränkt. Es wäre ein Leichtes, dieses Bewegungsbild der laufenden Kommunikation auf eine Grossleinwand zu projizieren. Godard entschied anders. Nun also sprechen die anwesenden Kritiker aus aller Welt ihre Fragen in das vor sie gehaltenen Telefon, oftmals solche, die man einem Orakel stellen würde, etwa zur Rolle des Kinos und der Filmkultur in der Zukunft.
"Le livre d'images", Jean-Luc Godart |
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Sein Film “Image Book” (Le Livre d’image) darf mit Abstand als der ästhetisch radikalste Film, in Cannes Wettbewerb gelten, kaum geeignet für Sinnsucher. Texte, Klänge und Bildsequenzen werden permanent fragmentiert, transformiert, transferiert, segmentiert und dekontextualisiert. Selbst Satzfragmente schaffen es oft nicht zu einem Abschluss. Verschiedene Sprachen fliessen ein, Lautstärkeschwankungen sind die Regel, Originalton der Filmsequenzen und Off-Kommentare interferieren. Farbverschiebungen ergänzen die Transformationspalette.
Selbst im Vergleich zu Godards 2014 in Cannes präsentierten Werk “Adieu au Langage”, gleichfalls ein wildes, assoziationstrunkenes Werk mit permanent wechselnden Stimmen und Perspektiven, ist “Image Book” ein noch kompromissloseres, durch härtere und schnellere Schnitte gekennzeichnetes Werk. Konnten 2014 noch melodische Sequenzen Eingang finden, sind diese nun undenkbar geworden. Experimentierte Godard in “Adieu au Langage” mit einer 3D-Technik visueller Raumerfahrung, wird nun der Ton zum vagabundierenden Instrument einer akustischen Exploration.
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Trailer |
Gewiss entgeht Godard allen Sinnsackgassen, doch produziert er Sinnstimulanzen, die er wie einen Teppich bestehend aus heterogenen Schüben und Zonen ausbreitet. Diese Reise in das fruchtbare Chaos ist gewiss wohltuend zu erleben an einem derart durchstrukturierten Ort wie Cannes Festival. Dem Zuschauer wird zugleich ein Motto mitgegeben: man braucht einen ganzen Tag, um die Geschichte einer Sekunde zu erzählen und eine Ewigkeit für die Erzählung eines Tages. Godard schafft ein konsequentes Werk gegen schlichte Sinnmacher und Wirklichkeitsrepräsentatoren, eine in Zeiten digitalen Decodierung selten gewordene Geste, mehr rückgebunden an Intentionen historischer Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts wie Dadaismus und Surrealismus.
Godard erkennt in der Repräsentation selbst eine fragwürdige Gewaltgeste. Schafft er daher keine neuen Bilder mehr? Es scheint, es gibt deren bereits zu viele, eine Montage vorhandener Archivmaterialien und Gemälde, wie etwa die der Tunisreise Paul Klees und August Mackes, sind hinreichend.
Hier scheint eine Montagemachine am Werk, die sich verselbständigt hat. Das Konzept des Kontrapunktes, der eigenständige Gegenstimme zum Hauptthema, wurde als Beschreibungsmodell herangezogen. Doch angesichts der Heterogenität dieses Werkes scheint die Idee (nur) einer Gegenstimme unzureichend.
Und doch, auch in dieser Selbstfeier des Anarchismus gibt es Strukturen. Zunächst eine Kapitelordnung, die dann jedoch wieder in Heterogenität zerfällt. Vielleicht könnte man von auftauchenden Intensitätsinseln sprechen, die für kurze Zeit einen Focus stabilisieren. Eine erste Reflexion beispielsweise konzentriert sich auf die Hand, als wichtigstes Sinnesorgan. Die Hand selbst denkt, dies ist das erste aufflackernde Konzeptfragmente Godards.
Ein zweiter Bildschwerpunkt: Gleise, Züge, Fahrten…begleitet von einer Philosophie des Schwindens. Auch die Kunst als Manifest und Kondensator einer Kulturepoche, widersteht dem Zeitfluss nicht, heisst es im Off. Szenen von Aufständen und Revolten folgen. Godards Stimme fordert eine Revolution in der Revolution, fordert Befreiung von Vorurteilen. Das Subjekt muss sein eigenes Gesetz statuieren, gegen die Gesellschaft, die für Godard schlicht organisiertes Verbrechen ist.
Geschichte ist letztlich – wie Godard suggeriert - Kriegsgeschichte, die sich selbst wiederholt. Viele der flashartig eingespielten Sequenzen stammen aus Werken Sergei Eisensteins oder Max Ophüls, aber auch YouTube-Bilder von ISIS-Hinrichtungen fliessen ein. Sie alle dienen zur Dokumentation eines unausgesetzten, tausendjährigen Desasters.
Eine Intensitätsinsel in Godard delirierenden Off-Diskurs ist die Beschwörung eines glücklichen, selbstbewussten Arabiens, jenseits von Gewalt und Schrecken, ein verlorenes, in sich ruhendes Paradies, weder vom Islam, noch von kolonialistischen Weltmächten entstellt und enteignet. Melodien und Tanz widerstehen hier noch der Gewalt der Bilder und der Repräsentation.
Hier fällt der Name Samantar, eine Art Hoffungsfigur eines selbstbewussten Arabien, das der Machtpolitik entsagt und in der Gelassenheit einer Jahrtausende alten Kultur verweilt. Sein Gegenspieler Ben Kadem dagegen optiert für die Einbindung Arabiens in die machtpolitische Weltgemeinschaft. Diese Integration bedeutet das Ende der Souveränität der Machtlosen. Ben Kadem wird zur tragischen Symbolfigur der Unterwerfung der Golfstaaten durch die dominanten kolonialen Weltmächte. Beide hier von Godard zitierte Figuren sind Protagonisten des einzigen Romans Albert Cossery “Une Ambition dans le desert” (1984).
Am Ende liefert Godard noch eine Metareflektion in Form eines Brecht-Zitates: nur das Fragment ist authentisch. Und es folgt eine enigmatische Prophezeiung: es wird eine Revolte geben, entscheidend wird sein, mit sich selbst in der Sprache eines anderen zu sprechen.
Godard Werk dokumentiert: ein fortgeschrittenes Alter scheint zur Realisierung wirklich semiotisch radikaler Werke nicht nur nicht abträglich, sondern hilfreich. Nichts mehr zu verlieren haben ist die beste Voraussetzung der Kreation. Auch darf hier an die nicht minder radikale These des philosophischen Psychoanalytikers Jacques Lacan (1901-1981) erinnert werden, der in insignifikanten Brüchen das Einbrechen der Realen situiert |