Kurzfilme haben es zweifellos leichter, sich in Tabuzonen zu begeben. Weniger akzentuiert sind hier finanzielle Interessen und Risiken, grösser daher die Risikobereitschaft, Standarts und Mainstream-Narrationen zu unterlaufen.
"Das", Jelmer Wristers |
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Das an der Utrechter Kunsthochschule produzierte Film Jelmer Wristers, betitelt "Das", ist ein solches Werk. Extreme Vereinsamung in Grosstädten ist auf den ersten Blick sein Leitmotiv. Than, ein nervöser, als ein Aussenseiterdasein lebender junger Mann, rettet seinen völlig isoliert dahinvegetierenden Nachbar namens Das das Leben. Er ist auch zunächst der einzige, der ihn im Pflegeheim besucht. Than sieht sein eigenes Schicksal und bedrohliche Zukunft in diesem marginalisierten alten Mann gespiegelt. Er versucht Abhilfe zu schaffen, doch Lösungen gibt es - bis auf eine - nicht. Die Masseuse Senorita verdient ihren Unterhalt durch sensuelle Dienste, die sie vor allem alternden, zerbrechlichen Körpern anbietet. Wristler schafft eine Reihe aufrüttelnden Bildern eines Körpers an der Lebensgrenze, der noch einmal nach langer Entsagung sexuelle Sinnlichkeit erfahren kann. Wristers scheut nicht die Nahansicht auf die Abgründe zwischen den ungleichen Körpern. Der junge Than wird mit dieser Erotik konfrontiert, ein Erlebnis, das ihn mit seine eigenes Sensualitätstristess konfrontiert. Wristler schafft ein wichtiges Werk zu einer aktuellen Zivilisationskrise: der Tod vor dem Tod, den all die Abgeschobenen und Vergessenen zu leben verurteilt sind.
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Amüsant und doch zugleich bitter nachklingend: der australische Beitrag "Welcome Home Allen" Andrew Kavanaghs nutzt die leichte Form, um Problematisches zu evozieren. Der erste Teil seines Filmes scheint einem Hollywoodwerk über Feldkämpfe und Schlachtszenen der Wikinger entsprungen. Die überraschende Wendung tritt erst dann ein, als eine kleine Gruppe völlig verwahrlosten Barbaren sich mit einem Boot rettet und auf der anderen Seite des Wassers in unsere Gegenwart zurückkehrt, wo in pathetisch sentimentaler Empfang für diese Soldaten organisiert ist. Sie werden von ihren Ehefrauen und Kindern samt PKV freudig in Empfang nehmen. Eine Kapelle spielt zu ihrer Begrüssung. Dieses irritierende Moment des Zivilisationssprungs wird bekanntlich häufig von den Zurückkehrenden als Schock erfahren. Unintegrierbare Kriegserfahrungen führen dann zu Pathologien traumatischer Wiederholung. Kananga fängt die hilflosen und ungläubigen Blicke und Gesten der Krieger ein, für die eine harmlose Welt der Luftballons und Eiscremes nicht mehr zugänglich ist und die doch zugleich das Spiel zu spielen gezwungen sind, als sei alles beim Alten. |
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"Welcome Home Allen", Andrew Kavanagh
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"Greetings from Aleppo", Issa Touma, Thomas Vroege & Floor van der Meulen |
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Alles begann bei einem Treffen des syrischen Photographen Issa Touma mit niederländischen Kollegen, Floor van der Meulen und Thomas Vroege, in Rotterdam. Diese liessen sich mitreissen von Toumas ungebochenen Glauben an die Bedeutung der Kunst, selbst angesichts umgreifender Katastrophen. In seinen Photographien fanden sie intime Alltagsmomente kristallisiert, inmitten der Zerstörungswellen, Spuren eines noch möglichen Lebens in der niedergehenden syrischen Stadt Aleppo. Sie statteten den Photographen mit einer kleinformatigen Filmkamera aus, die Touma nutzte, um auf beschränktesten Lebens- und Aktionsraum, seine eigene Wohnung, ein Werk zu schaffen, das 2016 mit dem Europäischen Filmpreis gewürdigt wurde: "9 Days - From My Window in Aleppo". Der ununterbrochen zwischen den Welten Pendelnde brachte nun sein folgendes Werk "Greetings from Aleppo" nach Rotterdam.
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Ein drittes Werk ist in Planung, der die Phase der einsetzenden Restaurierung einer relativen Normalität zum Thema haben wird. "Greetings" zeigt seine Rückkehr zu seinem Wohnraum, in den derweil eine Bombe fiel, ohne jedoch explodiert zu sein. Erneut zeigt seine Kamera den Alltag: der gleiche Strassenreiniger verrichtet nach wie vor sein tägliches Werk, ein Händler reinigt seine Waren vom Bombenstaub, die den aktuellen Todesnachrichten gewidmete Mauer, für viele die morgendlich erste Lektüre, aber auch auf spontanen Privatfesten ausgelassen tanzende Jugendliche. Touma schafft Bilder unausgetilgter Lebenswürde selbst angesichts einer der grössten humanitären Katastrophen unserer Tage.
Mit "Non Castus" der chilenischen Filmemacherin Andrea Castillos kehren wir zu den Tabuthemen als besonderer Kapazität des Kurzfilms zurück. Die junge Mutter Trinidad zieht sich, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, verlassen von ihrem Ehemann, mit ihrem 21-jährigen Sohn in den Süden Chiles, in ein abgelegenes altes Haus zurück. In diesem kleinen Lebensraum, hinreichend abgeschieden von den Normen der Zivilisation, entwickelt sich zwischen Sohn und Mutter ein mehr als nur zärtliches Verhältnis. Ohne jede demonstrative Exaltation entfaltet Castillos die Geschichte eines Begehrens, einer intimen Leidenschaft in ihren Nuancen, dort, wo sie nicht statthaben darf und doch nichts anderes als natürlich ist. Bereits in Locarno wurde "Non Castus" mit grosser Aufmerksamkeit wahrgenommen. Auch Castillos Werk entstand an einer Universität, der Universidad de Chile. Erneut zeigt sich, welche bedeutende, wenn nicht exklusive Rolle heute Universitäten als Produktionsstätten des (noch) unabhängigen Film darstellen |
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"Non Castus", Andrea Castillos
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