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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 65. CANNES FILM FESTIVAL SHORT FILMS 2012 I VON DIETER WIECZOREK I 2012

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CANNES FILM FESTIVAL 2012

Der Kurzfilm in Cannes im Auftrieb

 

 

 

VON DIETER WIECZOREK

"Sessiz-be Deng", L. Rezan Yesilbas

koch

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Seit die "Short Film Corner" immer mehr Raum greift in Cannes, mit nunmehr einigen Tausend auf ca. 50 Monitoren einsehbaren Beiträgen aus aller Welt, seit diese unkomplizierte Option auch von nahezu allen nationalen Vertretungen am Ort für ihre Werkschauen genutzt wird, ist das Weltfestival auch für Kurzfilmenthusiasten immer attraktiver geworden.

Dass dieses Phänomen auch einen wohltuenden Einfluss auf die kuratorische Auswahl der Programmsektionen hat, immerhin vier an der Zahl, rechnen wir nehmen dem offiziellen Programm auch die je aus zwei Programmböcken bestehenden Werkschauen der "Semaine de la Critique" und der "Quainzaine de Realisateurs" sowie die gleich vierteilige der "Cinefondation" hinzu, kann nur vermutet werden. Unbestreitbar ist jedoch, dass gerade Cannes offizielles Programm nun sorgfältiger zusammengestellt und überzeugender wirkt als in den letzten Jahren, wenn auch nach wie vor in Erinnerung zu rufen ist, dass Cannes Filmauswahlen nicht mit denen der wichtigsten internationalen Kurzfilmfestivals konkurieren können.

Der Grund hierfür scheint nicht zuletzt, dass in Cannes Kurzfilme als Visitenkarten zu Langfilmen gedeutet werden, damit aber gerade die Chancen und Möglichkeiten des Kurzfilms unausgeschöpft bleiben und ästhetisch innovative Potenziale kaum anklingen. Der Kurzfilm in Cannes bleibt tendenziell story- und schauspielorientiert. Audiovisuelle Spielfreude und experimentelles Risiko wird man hier kaum finden.

Stärker geworden ist vor allem die auf 4500 eingereichten Filmen basierende offizielle Auswahl. Der szenischen Situierung der Filme ist Mangel an Realitätssinn kaum vorzuwerfen: Gefängnisvereinsamung, Exilanten auf der Flucht, Mord aus Langeweile, Nachtarbeit, Überleben in gewaltdominierten Trabantenstädten, Drogenhandel u.a. markieren die Themenfelder. Seit acht Jahren findet sich hier auf wieder ein deutscher Beitrag. Der bei Stephen Frears seine Filmregie absolvierend habende Eicke Bettingas (*1978) war bereits 2002 mit seinem Abschlussfilm "Shearing" von der Cinefondation präsentiert worden. In "Garp" handelt von einem Jugendlichen in psychischen Borderline, markiert von Vereinsamung und unerfüllter erotischer Sehnsucht, stets an der Grenze zum Selbstmord ohne Fluchtchance, wenn Selbstmord sich nicht in Mord transformieren liesse. "Gasp" verzichtet auf Erklärungen und psychologischen Ausdeutungen. Er insistiert auf der nicht kommunizierbaren Einsamkeit einer Jugend ohne Resonanz und Passion, wo Leben und Tod nahezu ununterscheidbar werden.

Die goldene Palme der von Jean-Pierre Dardenne geleiteten Jury ging an "Sessiz-be Deng" (Still) von L. Rezan Yesilbas (Türkei). Die Handlung beschränkt sich auf einen Gefängnisbesuch einer entmutigten Frau, die ihren jungen Ehemann versteckt ein Paar Schuhe unter dem Tisch zukommen lässt. Yesilbas lässt die nach dem Staatsstreich 1980 in der Türkei einsetzende Serie von Inhaftierungen und Folterpraktiken anklingen, ohne sie zu explizieren. Hingegen wird das Drama der nur kurdisch sprechenden Frau, die im türkischen Gefängnis zur Sprachlosigkeit verurteilt ist, ins Zentrum gerückt.

marina abramovic

"Night Shift", Zia Mandviwallas

 

Ein weiterer würdiger Anwärter auf die "Goldene Palme" wäre Zia Mandviwallas Film "Night Shift" gewesen. Die neuseeländische Regisseurin zoroastrisch-indischer Abstammung porträtiert eine im Flughafen nächtliche Putzarbeit verrichtende, von niemandem bemerkte Frau in ihrem tristen Alltag. Das Überleben gelingt der Nachtarbeiterin nicht zuletzt durch das Einsammeln verlorene Gegenständen oder zurück gelassener Nahrung, Kinderspielzeug eingeschlossen, dass sie ihren eigenen Kindern schenkt, mit denen sie in einem kleinen geparkten Fahrzeug neben dem Flughafen auf engsten Raum lebt. Auch Mandviwallas Werk zeichnet sich durch leise Töne und einen lediglich andeutenden Stil aus. Sie widmet sich mit viel Einfühlungsvermögen einer sozialen Grenzsituationen, die stets mehr zur Normalität wird und ein moralisierendes Wertsystem fragwürdig erschenen lässt.

Die “Semaine de la critique“ (Kritikerwoche), seit langem integrierter Bestandteil des Weltfestivals, was auch auf die Selbstdeutung der Presse nicht unkritische Rückschlüsse zulässt, wirkte im Vergleich mit dem starken Vorjahresprogramm eher desorientiert. Von Kung Fu-Kämpfen mit überdimensionierten männlichen Geschlechtsteil ("The Dickslap" von Jean-Baptiste Saurel, Frankreich) zu schüchternen homoerotischen Break-Outs bei Jugendlichen ("It’s not a Cowboy Movie", Benjamin Parent, Frankreich), von einer durch die Konfrontation mit ihrer Doppelgängerin verunsicherte, in Blutrausch geratende jungen Frau ("Doppelgänger", Juliana Rojas, Braslien) zu erotischen telephonischen Kommunikationen in der häuslichen Badewanne (Family Dinner, Stefan Constantinrescu, Schweden)....den grossen Atem der Zeit- und Wirklichkeitsreflexionen weisen all diese Werke kaum auf. Da freut man sich schon an einem beschaulichen Spaziergang eines Hundebesitzers durch einen Pariser Vororte, von Mini-Ereignis zu Mini-Ereignis schlüpfend, ein Film zumindest, der die erlebte Welt ein wenig in sich eindringen lässt (A Sunday Morning, Damien Manivel, Frankreich). Die einzig herausragende Ausnahme im eher schwachen Doppelprogramm kommt aus Israel. In "Hazara" folgt Shay Levi einen durch Kriegseinsatz psycho-terrorisierten jungen Mann, der nur mit grossen Schwierigkeiten in ein normales Familienleben zurückkehren kann, immer wieder von emotional unkontrollierbare Schüben zu abrupten Stimmungswechseln getrieben.

Im Doppel-Kurzfilmprogramm der "Quinzaine des réalisateurs" ist unter neuer Leitung ein Hauch zu mehr Internationalität und kultureller Spektralität zu spüren. Mit anderen Worten: das Programm ist weniger von einer französisch ästhetischen Optik geprägt (von Produktionsgegebenheiten abgesehen) als in den Vorjahren. Als Beispiel sei der in Kolumbien situierte, aber in Frankreich produzierte Film "Rodri" Franco Lolis genannt, der dem Alltag eines sympathischen, arbeits- und kompromissunlustigen Informatiker Rodrigo nachgeht, der an seinem stillen, in der Grossfamilie geborgenen Leben Gefallen findet, und trotz allem Druck der Nahestehenden wenig Ambitionen zeigt, sich im harten Arbeitsleben zu bewähren. Dieses subtile Porträt eines unauffälligen Aussenseiters überzeugt durch seine Detailbeobachtungen der kulturelle Differenz zu hiesigen Gewohnheiten, denn anlässlich seines Geburtstages lässt seine Familie Rodrigo doch ihre ganze Zuneigung spüren. Ein noch weit grösseren kulturellen Sprung wagt der aus Brasilien kommende Beitrag "Enraged Pigs" (Wütende Schweine), der kompromisslos eine pygmäische Frauengruppe bei ihren Ritualen zeigt, mit denen sie auf die Transformation ihrer Männer in herumirrende Schweine reagieren. Leonardo Sette und Isabel Penoni leisten schlicht keine "Vermittlungsarbeit", um ihren Film verständlicher wirken zu lassen. Gerade dies macht seine Stärke und Andersartigkeit aus, von der man gern mehr sehen würde, selbst in Cannes. Der sozialpolitisch wohl stärkste Beitrag des diesjährigen Quinzaine-Programms ist eine marokkanisch-grossbritische Koprodution. In "The Curse" (Der Fluch) von Fyzal Boulifa wird eine junge, in einer marokkanischen Dorfgemeinschaft lebende Frau bei ihrem erotischen Treffen von Kindern beobachtet, die sie gleich darauf unter Druck setzen, ihr verborgene Beziehung auszuplaudern, falls sie keine Süssigkeiten von ihr erhalten. Der Film rekonstruiert die hilflose Ausgesetztheit dieser unverheirateten Frau, die keinen Platz mehr finden würde in ihrer Lebensgemeinschaft, redeten die Kinder. Um deren Bedingungen zu erfüllen, gerät sie nur noch stärker in eine Spirale der Anhängigkeiten. Der Terror religiöser Hypokrisie ist prägnanter und komprimierter kaum zu zeigen als in Boulifas 16 Minuten Werk.

Der deutsche Kurzfilm feiert an Cannes Strand sein eigenes Fest. In der vorausgehenden, stets ausgebuchten Filmschau fielen dieses Jahr gleich mehrere Arbeiten durch individuelle Gestaltung und handwerkliche Präzision auf. Simone Feldmann (*1980) zeichnet in "Babuschka" das Aufbrechen eines Familiengeheimnisses und lang verdrängter Traumata anlässlich des Todes der Grossmutter und den einhergehenden aggressiven Konflikt um ihr Hab und Gut. Der Tod scheint notwendig, um sich mit den schmerzvollen Erfahrungen zu konfrontieren. Anselm Belsers’ (*1979) Film "Felix", mit 43 Sekunden wirklich ein die Zeit reflektierender Kurzfilm, fängt in nur einer Szene den Konflikt zwischen einem bewusst nervenden Kind und einem ebenso bewusst unpädagogisch reagierenden Erwachsenen ein, ein drolliger Akt der Befreiung von der Diktatur der Selbstbeherrschung. Ebenso in leichtem Ton lässt Mirjam Orthen (*1984) einen Jungen von seiner scheinbar als Alptraum erlebten ersten Kinoerfahrung berichten, zu die ihm sein Vater zwang. "Mission "Junge"" dient gleichzeitig dem deutschen Kurzfilmprogramm als Motto und Vorspiel, eine solche Erfahrung doch eher zu vermeiden. Jörg Rambaum (*1985) und Liv Scharbatke (*1984) lassen in dem konzeptuellsten Film der diesjährigen Filmauswahl in nur vier Minuten ein Menschenleben Revue passieren, lediglich durch die ins Bild kommenden, die einzelnen Lebensetappen begleitenden Objekte. „Olgastrasse 18“ kommt ohne jeden Dialog aus. Der periphere Aspekt menschlicher Existenz wird in diesem dezentrierten Werk allein durch das Bild vermittelt. Einen vergleichbaren fernen Blick auf die menschliche Existenz wirft auch Felicitas Sonvilla (*1988) in "Raumstation". Hier ist es der Nicht-Ort des Flughafens der die alltäglichen Gesten in ein substanzlosen, flüchtigen Transitzustand versetzen, der kühl beobachtet wird. Einen opaken emotionalen Raum umschreibt ebenfalls Rudolf Domke (*1978) in "Der Vagabund". Hier durchstreift ein junger Mann sprachlos Landstriche, alle Einladungen zu Kommunikation oder Interaktion strikt ausschlagend. Ziel seiner rastlosen Bewegung ist eine Art rituelle Vergrabung von Objekten und Erinnerungsstücken, über deren Kontext der Zuschauer nicht aufgeklärt wird. Die individuelle Bedeutung dieser lange vorbereiteten und gleichzeitig so schlichten Geste gewinnt durch ihre Unerklärtheit nur an Intensität für den ausgeschlossenen Betrachter.

Der deutsche Kurzfilm überzeugte in Cannes durch seine Eruierung kommunikativer Randzonen und darüber hinaus seine innovativen Ortsbestimmungen menschlicher Existenz. Unkommunizierbare Sinnhaftigkeit, Transitivität, Marginalität und statische Konfliktpotenziale sind die hervorzuhebenden Stichworte dieser Bestandsaufnahme. Dass dies auch einmal heiter geschehen kann, demonstriert die 1979 in Israel geborene Ester Armani. Sie zeigt eine Begegnung zwischen einem traumatisierten Palästinenser und einem Israeli, die nur deshalb nicht katastrophal endet, da der Israeli alles daran tut, seine Herkunft zu verschweigen ("Zwei Männer und ein Tisch"). rouge

 

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65. CANNES FILM FESTIVAL 2012

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16 - 27 / 05 / 2012

Cannes Film Festival

sessiz be deng

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