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px rouge INTERVIEWS I PHILIP KOCH I DIETER WIECZOREK I 2010

PHILIP KOCH

Alles außer unberührt

DIETER WIECZOREK

koch

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Auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis erhielt Philip Koch für sein Spielfilmdebüt den Preis des Saarländischen Ministerpräsidenten. Einige Monate später durfte er Picco in Cannes präsentieren. Ein kontrovers diskutierter Film feiert Erfolge.

Wie sind Sie zu der Idee gekommen, die Wirklichkeit hinter deutschen Gefängnismauern einzufangen? Was hat Sie interessiert?

Die Initialzündung stellten 2006 die Ereignisse in der JVA Siegburg dar. Das war das erste Mal, daß ich auf das Thema Justizvollzug aufmerksam wurde, habe die Sache aber, wie viele, erstmal verdrängt. Aber es hat mich Jahre nicht losgelassen. Als es dazu kam, was ich für einen Abschlußfilm an der HFF München mache, kam es wieder in mein Bewußtsein. Ich habe von Anfang an gespürt, daß da – trotz oder gerade wegen der Düsternis – eine große Wahrheit verborgen liegt. Eine Wahrheit über unsere Gesellschaft, aber auch eine universale Wahrheit über uns Menschen. Und eine Geschichte, die sozialpolitisch relevant ist – und gleichzeitig eine hochspannende emotionale Kinoerfahrung birgt.

Mich hat die unfaßbare Brutalität erschüttert, mit der in deutschen Jugendgefängnissen mehrere Folterskandale stattgefunden haben. Die Zeitungen haben das dann sofort als menschliche Abgründe deklariert. Die Täter an sich seien einfach Bestien. Im Lauf der Recherche wurde mir schnell klar, daß die Brutalität dieser Fälle keine individuellen menschlichen Abgründe sind, sondern die Abgründe eines korrumpierten Systems. Es ist das abstrakt erscheinende Versagen des Systems, daß sich in dieser so unmittelbar konkreten Erfahrung von körperlicher und psychischer Grausamkeit widerspiegelt. Das ist der entscheidende Unterschied, den ich mit Picco klar machen wollte. Diese Menschen sind keine Bestien. Oder, provokativ: Wir sind es, die sie zu Bestien machen.

Wie haben Sie sich auf das Thema vorbereitet?

Für den Film habe ich über ein Jahr recherchiert. Zuerst natürlich durch enorm viel Lektüre von Zeitungsartikeln, Dossiers, etc. hin zu Belletristik und einschlägiger Fachliteratur: Besonders hervorzuheben dabei ist das Buch »Pop Shop« von Klaus Jünschke, der aufgenommene Gespräche mit Jugendlichen in Haft eins-zu-eins transkribiert und veröffentlicht hat. Ein extrem wertvolles, authentisches Dokument! Am wichtigsten aber waren die Besuche in den JVAs selbst, mit den Anstaltsleitern, den Psychologen, den Sozialarbeitern, den Justizvollzugsbediensteten und natürlich den Häftlingen selbst zu sprechen. Diese Treffen haben mich sehr bewegt. Was mich aber in der Recherche persönlich enttäuscht hat, war, daß uns die JVA Siegburg nicht hereingelassen hat. Die werden natürlich überrollt von Presseanfragen. Aber da war kein Hereinkommen. Ich war bis heute nicht dort.

Wie haben sich Ihre Schauspieler auf ihre Rollen vorbereitet? Kam es zu Kontakten mit Gefängnisinsassen?

Ja, jeder von ihnen hat sich intensiv vorbereitet und auch mit (meist ehemaligen) Insassen gesprochen. Alte Bekannte, Freunde von Freunden, die schon mal eingesessen haben. Bei Terminen mit Jugendlichen in Haft hat man meist nur 15 Minuten oder so, da kann man nur an der Oberfläche kratzen. Man braucht viel Zeit, um sich an so »komplexe« Persönlichkeiten heranzutasten.

Hatten Sie alle Freiheiten in der Durchführung, oder kam es zu Einschränkungen?

Ich habe den Film ausschließlich mit den beiden Produzenten, Philipp Worm und Tobias Walker, in sehr enger Zusammenarbeit entwickelt. Wir wollten die Geschichte so frei und unabhängig wie möglich realisieren. Keine Redakteure, keine Dramaturgen, keine HFF-Seminare, keine inhaltlich agierenden Koproduzenten – niemand außer uns dreien, der etwas dazu sagt. Selbst den Kameramann Markus Eckert – der eine großartige Arbeit geleistet hat – habe ich erst kurz vor Ende der Drehbuchentwicklung ins Projekt geholt. Was für mich auch neu war, bei früheren Kurzfilmen hatte ich die Kameraleute schon sehr früh dabei und die haben dann auch ihre Ideen und Anmerkungen gehabt. Aber gerade am Anfang kann man sich Geschichten oft zerreden lassen. Man droht viel leichter den Weg zu verlassen, findet Kompromisse, um möglichst alle zu befriedigen – und belügt sich meist selbst, daß man immer noch auf Kurs ist. Aber das ist ein Trugschluß. Kompromiß – Konsens – Katastrophe! Eine Anti-Klimax, die vielen Filmen zum Verhängnis wird. Den einzigen Kompromiß, den wir eingehen mußten, war auf das Budget zurück zu führen. Leider ist beim Film die künstlerische Freiheit fast immer an das Geld gekoppelt. Einige Szenen konnten wir einfach nicht zufriedenstellend realisieren; zum Beispiel eine alternative letzte Szene, in der die Hauptfigur am Morgen nach der Tat im Gefängnishof bis zur Erschöpfung im Kreis läuft und anschließend mit voller Wucht gegen die Gefängnismauer rennt und ohnmächtig zusammenklappt. Das wäre vielleicht der verzweifeltste, absurdeste Ausbruchsversuch in der Geschichte des Gefängnisfilms gewesen! Aber den gibt es weiterhin nur auf dem Papier und in meinem Kopf. Ärgerlich, aber mit dem jetzigen Ende bin ich auch sehr zufrieden. Es ist subtiler, mehr understatement – und erzählt trotzdem sehr viel.

Ist Ihre zur Dokumentation neigende Beobachtung orientiert an bestimmten Vorgängern?

Es gab natürlich einige Filme, die inhaltlich und formal einen Einfluß auf die Erzählart und Tonalität von Picco hatten. Die Filme von Alan Clarke zum Beispiel. Allen voran Scum, Clarkes Meisterwerk über einen Jugendknast in England – ein Film, der seinerzeit übrigens dafür gesorgt hat, daß sich das Justizvollzugssystem in England geändert hat. Es steckt viel von Scum auch in meinem Film, inhaltlich und formal. Auch Gus van Sant hat sich von seinen Filmen inspirieren lassen. Und auch dessen unkommerziellere Werke wie Elephant, Last Days oder Paranoid Park waren für die Sprache von Picco wichtig. Und natürlich auch die Filme von Michael Haneke. Einige dieser Filme habe ich in Picco zitiert.

Ist Ihnen vorgeworfen worden, die Realität zu überzeichnen oder einen realitätsfernen Film gemacht zu haben? Und wenn, von wem?

Eigentlich nicht. Es gab nur ein paar deutsche Zuschauer, die einfach nicht wahrhaben wollten, daß so etwas in deutschen Gefängnissen – also direkt vor ihrer Haustür – passiert. Aber es ist einfach Fakt, daß sich im Schnitt alle drei Tage in deutschen Gefängnissen ein Häftling umbringt. Nur zwei Monate nach dem Foltermord in Siegburg haben sich zwei weitere Jugendliche das Leben genommen! Fast jede zweite Szene in Picco ist in diversen JVAs in der BRD vorgekommen und die Location, in der wir gedreht haben, war bis einem Jahr vor Dreharbeiten noch voll in Betrieb.

Wie haben Sie Cannes erlebt?

Natürlich ist es ein Traum, seinen ersten Spielfilm hier zeigen zu können. Niemand hatte damit gerechnet, da die normalerweise Weltpremieren stark präferieren. Und Picco lief ja schon in Saarbrücken auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis und wurde sogar ausgezeichnet. Wir waren alle komplett aus dem Häuschen. Und sind es immer noch. Plötzlich steht man als Hochschulabsolvent mit seinem Film im Auge der Weltöffentlichkeit. Daß Picco dann der Film des 2010er Jahrgangs wird, der für die emotionalsten Zuschauerreaktionen sorgt, damit hätte ich nicht gerechnet. Saarbrücken war schon ein Eklat, mit Zuschauern, die sogar die Plakate aus lauter Haß auf den Film herunter gerissen haben (nebst jenen, die mir noch Tage später mit Tränen in den Augen für den Film gedankt haben). Aber ich dachte, die Zuschauer in Cannes wären nach Filmen wie Irreversibel oder Antichrist abgehärtet. Pustekuchen. Beim ersten Screening sind Leute laut weinend, laut brüllend und schimpfend aus dem Kinosaal gelaufen. Beim letzten Screening hat mich ein alter Mann laut angeschrien und mir gewünscht, daß der Film nicht erfolgreich wird. Hoffen wir, daß er Unrecht hat! Es ist also auch international ein Film, der enorm polarisiert. Aber so, wie ich es wahrgenommen habe, ist eine große Mehrheit vom Film begeistert und versteht seine Botschaft.

Gab es Momente, in denen Sie überrascht waren?

Als bei einem der Screenings in Cannes empörte Zuschauer beim Verlassen des Saales während der Vorführung Auschwitz-Vergleiche gebrüllt haben!

Welche Reaktionen erhoffen Sie sich auf Ihren Film?

Alle außer unberührte, gelassene oder gleichgültige. In Cannes hat mich ein Zuschauer beim Q&A wutentbrannt angebrüllt, daß ich für den Film ins Irrenhaus gehörte. Eine andere, hochschwangere Frau hat sich tief bewegt beim Hauptdarsteller bedankt und ihm gesagt, daß sie jetzt ihr Kind mit einem anderen Bewußtsein erziehen wird. Der Film polarisiert, er provoziert den Zuschauer, Stellung zu beziehen. Und das wichtigste ist, daß er für Diskussionen sorgt. Beim Q&A kam es, daß die Zuschauer so emotionalisiert nach dem Film waren, daß sie plötzlich angefangen haben, sich gegenseitig anzubrüllen. Die haben sich gestritten, laut und intensiv! So etwas habe ich auf einem Festival noch nicht erlebt. Das war einer der schönsten Momente in Cannes. Und für uns ein toller Beweis, daß der Film funktioniert.

Soll Ihr Film in Gefängnissen gezeigt werden oder wurde er dies bereits?

Noch nicht. Aber es gibt bereits Anfragen. Das möchten wir machen, wenn wir auf den Kinostart zusteuern. Aber das muß sehr genau mit den Anstalten geplant und aufs Sorgfältigste begleitet werden. Das ist sehr prekär. Auf solche Screenings bin ich mit am meisten gespannt.

…oder in Schulen, um über die Mechanismen der Gewaltgenese aufzuklären?

Das definitiv. Denn er behandelt im Wesenskern auch das Thema Zivilcourage, verdichtet auf vier junge Menschen in einer Gefängniszelle. Ich finde es fundamental wichtig, daß auch ältere Jugendliche den Film sehen, um zu verstehen wie es zu so etwas kommen kann. rouge

 

 

 

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PHILIP KOCH

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Philip Koch, "Picco"

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Website von Philip Koch
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Der Spielfilm PICCO - 2010 u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Films und dem German Independence Award ausgezeichnet - wird durch den Verleih MOVIENET am 3. Februar 2011endlich in den deutschen Kinos starten!

 

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