Jay Rosenblatt, geboren am 25. Februar in Brooklyn, New York studierte zunächst Psychologie, bevor er auf eine Filmschule zu Therapiezwecken aufmerksam wurde, die zum entscheidenden Lebenseinschnitt wurde. Die Arbeit des zwischen Dokumentar- und Experimentalstil oszillierenden, mehrfach preisgekrönten und mit diversen Stipendien versehenen Künstlers konzentriert sich auf vorwiegend traumatische Schlüsselmomente menschlicher Existenz. Hochkomplexe Collagen, charakterisiert durch Wiederholungsschlaufen, Soundverfremdung sowie Footage- und Heimarchivmaterial verknüpfende Filmzitate kennzeichnen seinen Arbeitsstil. Den etwa 30, stets an der kurzen Form festhaltenden Werken Rosenblatts wurde in Nyons Dokumentarfilmfestival »Visions du Réel« eine umfassende Retrospektive in fünf Programmen gewidmet.
Wenn Sie heute auf ihr Werk zurückschauen, würden sie sagen, sie folgen einer bestimmten Intention, einer konsistenten Entwicklung oder gab es signifikante Einschnitte und Umorientierungen?
Ich würde mein Werk als von anwachsender Beharrlichkeit gekennzeichnet beschreiben. Ich wußte nicht, wohin mich der Weg führt, aber es war mir wichtig, nie auszusetzen, geprägt von der tiefen Überzeugung, Filme machen zu wollen. Ich begann sehr konventionell, mit Skript, Schauspielern und narrativen Filmen, bevor ich mehr experimental zu arbeiten begann. Chris Markers Film Sans Soleil hatte eine große Wirkung auf mich. Ich fragte mich, wie er den Film gemacht hatte, ich kann mich täuschen, aber ich hatte das Gefühl, er wußte nicht von vornherein, wohin ihn dieser Film führen wird. Er sammelte und »schrieb« ihn erst im Editionsprozess. Da begann ich, Filme auf ähnliche Weise zu machen. Ich wußte nicht vorab, über was der Film handelte, aber ich vertraute, daß er organisch weiter wachsen wird, als ob ich einer Pflanze beim Wachsen zuschaute. Je mehr Filme ich machte, umso mehr vertraute ich dem Universum und dem eigenen Schaffensprozeß. Am Anfang, wenn ich in eine Sackgasse geriet, begann ich den Film zu hassen und wurde nervös, da er mir richtungslos erschien. Ich kenne immer noch diese Gefühle, aber ich habe mehr Vertrauen, daß der Film sich selbst präsentiert und ich wissen werde, wann er abgeschlossen ist. Manchmal kenne ich die Emotion oder das Thema, das ich im Film zum Ausdruck bringen will, aber ich weiß zu Anfang nicht, wie ich ihn realisieren werde, bevor ich nicht wirklich mit dem Film zu arbeiten beginne.
Wann wissen sie, daß der Film an sein Ende gekommen ist und sie ihn für abgeschlossen erklären können?
Ich beende einen Film nicht, bevor ich nicht wirklich zufrieden bin und alle Möglichkeiten ausprobiert habe. Manchmal steht ein Film bereits knapp vor seinem Ende, aber ich bin nicht bereit, ihn abzuschliessen. Beispielsweise war mein letzter Film The Darkness of Day zu 95% realisiert, aber die letzten 5 % haben ein Jahr in Anspruch genommen. Es gibt zwei Stimmen in dem Film, die Frauenstimme überzeugte mich nicht. Ich mochte die Stimme, doch nicht die Diktion. Dann gab es dort eine etwas unausgearbeitet Passage, in der visuell zu wenig passierte. Ich probierte andere Stimmen aus, ich montierte sie auf verschiedene Weise in den Film, bis ich wiederum zur ersten Sprecherin zurückkehrte, aber eine grössere Präzision forderte, und dann traf sie es. Dann fand ich anderes Footage, um die Passage anzureichern und erst da wußte ich: es ist abgeschlossen. Selbst wenn ich zu etwas zurückkehre, was ich vorher begonnen hatte, probiere ich etwas anderes aus, um zu eliminieren. Sonst würde ich mich stets fragen, hätte ich nicht dies und jenes ändern sollen. Ich muß sicher sein. Glücklicherweise arbeite ich nicht für das TV. Ich habe keine definitiven Abgabetermine und kann mir die nötige Zeit nehmen. Selbst wenn ich Produktionsmittel erhalte, sage ich, falls nötig, daß ein Abgabetermin nicht einzuhalten ist und ich ein weiteres Jahr brauche. Und die nehmen das gelassen, da sie wirklich etwas Überzeugendes wollen.
Gibt es für sie eine Ethik des Filmemachens, einige zu beachtende Regeln, was zu tun und zu lassen sei?
Ich mache keine konventionellen Dokumentarfilme. Ich arbeite weniger mit Personen, sondern mit Kollagen und Archivmaterial. Aber wie in meinem Leben ist meine Haltung, nicht zu schaden, zu verletzten oder gar ein Leben zu zerstören. Als ich zum Beispiel mit meiner Tochter in der Diary-Serie arbeitete, da war sie während des letzten Film vier oder fünf Jahre alt und ich realisierte, daß sie ihre eigene Persönlichkeit entwickelt hatte. Ich zeigte den Film an einigen Orten, aber ich entschied, es wäre nicht fair ihr gegenüber, wenn der Film in irgendeiner Weise einen negativen Einfluss auf ihr Leben haben könnte. Daher zeigte ich ihn nicht in meiner Umgebung in San Francisco und selbst wenn ich ihn andernorts zeigte, habe ich immer versucht, sie da raus zu halten. Dies war mein einziges ethisches Dilemma. Doch mit Themen, die mir nicht so nahe sind, habe ich dieses Problem nicht.
Man könnte Ihren Filmstil als eine Dechiffrierung und Dekomposition von traumatischen Situationen bezeichnen. Sie thematisieren die schmerzhaftesten Momente menschliche Existenz und transformieren sie in überraschender, zuweilen spielerischer Weise. Glauben sie, daß es derart möglich ist, sich von dem Traumata zu befreien oder handelt es sich lediglich um eine weitere Decodierung und Enigmatisierung des Traumas? Wird das Trauma bloß transformiert oder therapiert?
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Therapie ist Transformation. Ich mag ihre Art, meine Filme zu beschreiben. Ich hoffe, wenn ich in einiger meiner Arbeiten mit etwas sehr Traumatischen und Persönlichem beginne, ich das Vertrauen des Publikums gewinnen kann, sich mit mir auf eine Reise zu begeben und einen heilvollen Nutzen mit therapeutischem Aspekt aus dieser Reise zu ziehen. Oft wollen sich Menschen nur in Beziehung fühlen zu anderen. Ich kann nur einladen, einen Blick auf sich selbst zu werfen, auf mich, auf den Film, und im Film gibt es immer einen Atemraum, eine Zone möglicher Selbstreflexion. Ich hoffe, daß meine Filme zu Diskussionen einladen. Wenn etwa angesichts meines Film The Darkness of Day jemand sich isoliert fühlt oder andere isolierte Personen kennt und sie sich mit ihnen in Beziehung setzen kann, würde mich das glücklich stimmen. |
Im Filmmacher haben sie mindestens drei Möglichkeiten der Transformation: die Selektion des Materials, die Montage und die Tonaddition. Auf dieser Weise können sie mit dem Trauma arbeiten und eine Art Befreiung schaffen. Sind hier nicht kulturpolitische Konsequenzen zu ziehen? Sehen sie eine andere Kulturproduktion, die gleiche Kapazitäten hat?
Ich denke alle Kunstformen haben diese Kapazität. Sie können eine Musikkomposition hören oder Malerei sehen und sich tief berührt fühlen. Film ist etwas direkter, aber überall gibt es die Möglichkeit einer heilenden Funktion auf unbewußter und sehr subtiler Ebene. In meinem ersten Film The Session, der für sich genommen weniger bedeutsam ist, zeichnen sich trotzdem bereits einige Themen ab, die in späteren Filmen wiederkehren. Selbst hier ist die Beziehung zwischen Patient und Therapeut entscheidend, dort, wo die Maske fällt und eine Mensch zu Mensch Erfahrung möglich wird. Dieses Thema beschäftigt mich bis in The Darkness of Day. Die letzte Szene dort ist eine Gruppentherapie. Hier ereignet sich eine Beziehungserfahrung. Eine Frau durchquert den Raum und umarmt einen Mann. Etwas macht diese Beziehung möglich. Dies ist für mich eines der wichtigsten Motive in allen meinen Filmen: die Erfahrung der Mitmenschlichkeit ermöglichen. Das kann wie in einigen meiner Filme in einer sehr therapeutischen Weise geschehen, oder im gemeinsamen Lachen des Publikums, etwa angesichts der Filme mit meiner Tochter. Das ist sehr befriedigend, eine andere Art der Therapie, aber es gibt nicht Besseres, als gemeinsam über das Gesehene zu lachen.
In beiden Filmen ist die physische Berührung der entscheidende Moment. Filme können ihn zeigen, doch die Situation der Filmrezeption ist anders geartet, entkörperlicht, der letzte Schritt fehlt…
Die Berührung vollzieht sich emotional, wenn zwei Seelen zusammen kommen, wenn das Einsamkeitsgefühl sich auflöst.
Würden sie nicht das Filmemachen in dieser Hinsicht der Kapazität eines Befreiungseffektes als notwendiges Element jedes Schulprogramms befürworten?
Es gibt so viele Kunst- und Filmformen. Ich wurde nie sagen »Es sollte so sein«. Für mich ist diese Möglichkeit wichtig, aber ich kann auch einen Film Bressons sehen und eine Art therapeutische Erfahrung machen. Da ich emotionell und spirituell berührt bin, empfinde ich etwas Heilendes, das ich nicht artikulieren kann. Wenn ich ein bedeutsames Kunstwerk sehe, passiert etwas sehr Wichtiges und Wertvolles.
Es gibt Filme, die den Zuschauer allein lassen angesichts des laufenden Desasters. Andere haben einen kathartischen, erleichternden Effekt. Können sie bestimmen, wie man vom ersten zum zweiten Typ kommt?
Es gibt misanthropische Filme, die einen von der Menschlichkeit entfremden, Quentin Tarantinos beispielsweise. Ich kann das Talent bewundern, aber selbst versuche ich Filme zu machen, die mich verbinden mit anderen.
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