Es sind die Glücksmomente des Cinephilen, wenn plötzlich Kino mehr ist als Story, schöne Bildwelt oder intellektuelle Montagearbeit. Wenn die Kamera in eine fremde Umgebung taucht, Hunderte von Details und Eindrücke registriert, Bilder, die eine große Vertrautheit des Filmemachers mit sehr spezifischen Situationen zur Voraussetzung haben, neben Geduld, Beobachtungstalent und dem Glück, am rechten Ort zur rechten Zeit zu sein, um das Unfabrizierbare einzufangen. Tulpan des aus Kasachstan stammenden Sergey Dvortsevoy ist ein solcher Mikrokosmos, der seine sinnliche Fülle in jeder Einstellung vor dem Zuschauer entfaltet. Der Hauptpreis der Parallelreihe »Un certain regard« wurde ihm in Cannes mit Recht zugesprochen.
Die Härte der Lebensbedingungen in der kasachischen Steppe sind Thema und Akteur. Jede Geste wirkt hier bedeutsam. Eindringlich wird die Symbiose von Mensch, Tier und Maschine im Überlebenskampf verdichtet zu Bildern wie Maul-zu-Mund-Beatmungen gerade geborener Schafskälber oder das orale Ansaugen des Diesels durch Plastikschläuche. In dieser Welt voller Widersprüche, wo tagsüber im Radio die Weltnachrichten zur Transformation Kasachstans zum fünftgrößten Öllieferanten neben Boney M.-Songs erklingen und junge Männer in Sexillustrierten blättern, singt eine Frau abends im gemeinschaftlichen Zelt ein wundersam ergreifendes Lied als einzige Unterhaltung. Auch dieser Lebensraum ist längst nicht mehr intakt. Schafe haben nicht mehr die Kraft, ihre Kälber stehend zu werfen, junge Männer wollen in die Stadt fliehen, und harte Generationskonflikte indizieren den Zusammenbruch des traditionellen Wertesystems
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