Nyons Festival “Vision du Réel” konfrontiert mit dem Ende des Homo Sabiens unter anderen Herausforderungen.
“God’s word is still imperfect, but if we work together, we can make God perfect” ist nur einer der provozierenden Sätze aus dem Munde einer Führungskraft des “Earth BioGenome Project”. Hier arbeitet man daran, die DNA Strukturen aller Lebewesen vollständig zu dechiffrieren, 3000 jährlich erfasste Genomstrukturen ist ein schon bald erreichtes Ziel. 1000 Euro ist der aktuelle Marktwert eines entschlüsselten Genoms. 2 Millionen Populationen sind bereits gesammelt und gesampelt. Das chinesische Labor verfolgt das aufwendigste und folgenreichste Projekt wissenschaftlichr Forschung bis heute, die vollständige digitale Kopie des Lebens selbst. Für schlichte eine Million Dollar einen geliebten verstorbenen Haushund zu kopieren, von dem nur eine lebende Zelle übrig blieb, ist hier nur ein kleines Kollateralgeschäft, das es im südkorenaischen “Sooam Biotech” Institut bereits alltäglich praktiziert wird. |
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""Genome 2.0", i", Christian Fre
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"Genome 2.0", Christian Frei |
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Dabei beginnt Christian Freis “Genome 2.0” in Nyon als Europäische Premiere präsentierten Film eher harmlos, als eine sozialkritische Studie und Naturfilm verbindendes Werk. Die Kamera folgt den im unzugänglichen Norden Sibiriens hart arbeitenden Mammuthörner-Jägern, die jährlich eine riskante Fahrt über das Eismeer zu den New Siberian Islands unternehmen, wo der abtauende Permafrost eine beachtliche Anzahl der majestätischen vorgeschichtlichen Tiere freilegt. Diese Männer, die allesamt mit Vereinsamungs- und Isolation Syndromen zu kämpfen haben, verbringen Monate in diesem lebensfeindlichen Terrain. Sie riskieren für ein paar Hundert Dollar ihr Leben. Den eigentlichen Gewinn aber machen Mafioso Zwischenhändler, die auch dafür sorgen, das genau dort, bei der Übergabe der begehrten Hörner an sie, der Dokumentarfilm unter Druck abgebrochen wird. Maxim Arbugaev, Christian Freis Kollege und Ko-Direktor, verbringt eine ganze Saison mit den Männern um ihre tägliche, zuweilen einer Sucht gleich kommenden Suche in der vereisten Erde zu porträtieren. Ein grosser Fund könnte ihre kleinen Lebenskosten für Jahre decken.
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Arbugaev und Frei kommunizieren aus den scheinbar so unterschiedlichen Welten der abgelegenster Natur einerseits und den High-Tech-Szenarien der Genom Forschung andererseits per Email miteinander. Doch vereint ein eleganter Pfaden die beiden Terrains: aus dem Eis werden zuweilen noch fast intakte Mammutkörper geborgen. Aus einem strömt sogar noch Blut, das vor Jahrzehntausenden in diesem Körper zirkulierte. Könnte nur eine lebende Zelle noch geborgen werden, wäre eine Rekonstruktion des ausgestorbenen Tieres denkbar, als lebensfähiges Wesen.
Wie nebenbei bringt Frei auch einige bereits gezüchtete, hybride Lebewesen ins Bild. Mixturen aus Pferden und Zebras etwa und vieles mehr, alles lebendige Wesen, die im Labors entstanden. Die synthetische Biologie will sich nicht darauf beschränken, DNA-Strukturen zu lesen, sondern geht an, sie aktiv zu schreiben, ein Leben nach Mass und Wunsch zu kreieren, Eingriffe in das menschliche Leben sind selbstredend das eigentliche angestrebte Experimentierfeld.
Schon jetzt lassen sich Gensequenzen wie das Down-Syndroms isolieren und pränatal entfernen. Krankheitsverhinderung ist die einfachste Legitimationsfigur der schnell voranschreitenden Forschung, die bald Fähigkeiten, emotionale Dispositionen und Intelligenzniveaus wird produzieren können. Die Horrorutopie der Erstellung vorgefertigter Kinder je nach Gehaltslage, denn billig sind diese Intervention gewiss nicht, rückt in erstaunliche Nähe. Eine der bereits absehbaren Konsequenzen werden Prozesse sein, in denen Kinder ihre Eltern verklagen können, nicht genügend in ihr genetisches Kapital investiert zu haben. Cristian Frei stellt die Schlüsselfrage der Gegenwartskultur nach der heraufdämmernden Apokalypse menschlichen Lebens. Was heute sich in Szene setzt ist der Beginn der Erstellung synthetischer Körper und Gehirne, die durch neurologische und genetische Modifikationen vorprogrammiert und mit maschinellen, computergesteuerten Bauteilen angereichter werden können. Wer könnte dies verhindern? Wer wollte es (noch)? |
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""Genome 2.0", i", Christian Fre
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Ebenfalls in Nyons Internationalen Wettbewerb Eingang fand “Going South” des kanadischen Regisseurs Dominic Gagnon. Man könnte dieses Werk vielleicht am ehesten aufgrund seiner frenetische Bildschau und seines scheinbar willkürlichen Situationsparcours in exzessiv angespanntem Rhythmus als Versuch deuten, den delirierenden Geisteszustand des permanenten Internetkonsumenten abzubilden. Katastrophenvideos, Stürme, Flugzeugnotlandungen, frenetische Discos, brennende Bäume, Tätowierungen, Transgender-Selbstinszenierungen, Jugendaggressivität… diese Sequenzen folgen einander ohne Übergänge, synthetisiert bloss durch schrillen Sound.
Auch eine Serie Selbstinszenierungen intimer marginaler Existenzen finden Eingang in Gagnons Bildrausch. Diese Online-Selfies schrecken auch vor der Bestandsaufnahme des eigenen Kühlschrankes und ihrer Kochvorbereitungen nicht zurück. Alltäglichen Monotonie stimmt ein in den Chor “Thanks for Watching this Video”. Selbst Protagonisten mit Privilegien, wie Astronauten in Raumstationen, erklären im Detail die dortigen Toilettenfunktionen.
Eine weigere Bildschicht bilden virtuelle Welten, gefüllt mit Schlachten oder Unfällen. In dieser rasenden Fragment- und Egoschau kann auch die “Flat-Earth-Theorie” noch ernsthaft diskutiert werden.
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"Going South", Dominic Gagnon
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Einen Blick in den hermetischen Kosmos einer Anstalt für geistig Behinderte erlaubt Edmond Carrère in “A l’Infini”, ebenfalls präsentiert in Nyon internationalem Wettbewerb. Die dortigen Dialoge kreisen fast stets um die gleichen Themen und Sorgen, wie Kleidung, Nahrung, kleine Ausgänge und Taschengeld, allesamt wichtige Elemente wiederholten Einübung minimaler Regeln des Zusammenlebens.
Bewundernswert ist der geduldige, aufmerksame, vorsichtige und zuweilen gar liebe- und humorvolle Umgang der Pfleger mit den ihnen Anvertrauten. Sie verleihen dem kleinen Kosmos Leben und Vitalität. Schwere und Schwermut kann hier kaum aufkommen. Dies schliesst selbstredend punktuelle gewaltsame Ausbrüche und deren ebenso entschiedene Entgegentreten nicht aus. Eine anmutige und charmante Pflegerin, gewiss ein Herzstück in Edmond Carrères Dokumentarfilm, gewahrt natürlich auch die erotischen “Attacken” ihrer Pfleglinge.
"A l'infini", Edmond Carrère |
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Durch nahansichtige Kameraführung und sensible Beobachtung gelingt es Carrère, dem Zuschauer Einblick zu geben in einen abgeschirmten Lebensraum, der - lässt man sich auf ihn ein - eine erstaunliche Eigendynamik entfaltet.
Die Patienten erscheinen als sympathische, hilfsbedürftige Wesen, zuweilen verspielt, zuweilen betrübt, doch stets sehr viel präsenter, als es auf den ersten Blick erscheint. Edmond Carrères Film schafft Distanzabbaus und der Toleranzstiftung, zugleich auch eine der seltenen Würdigungen eines professionellen Engagements, dass wenig wahrgenommen wird. Medienwirksamer sind Missbräuchen und Entgleisungen in geschlossenen Milieus. Gerade weil Carrères Film die Betreuer auch in Momenten der Schwäche zeigt, werden sie für den Betrachter zu sensiblen Teilhaber einer Gemeinschaft fragilen Lebens mit all seiner Eigendynamik
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