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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 68. BERLIN FILM FESTIVAL I Markus Imhoofs “Eldorado” öffnet den Blick für Migranten von Gestern und Heute I VON DIETER WIECZOREK I 2018

Wie die Europäische Gemeinschaft zur kriminellen Vereinigung wurde

Markus Imhoofs “Eldorado” öffnet den Blick für Migranten von Gestern und Heute

 

von Dieter Wieczorek

“Eldorado”, Markus Imhoof

The Trial: The State of Russia vs Oleg Sentsov

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Die Verrohung der Wahrnehmung hat seit langem eingesetzt. Heute werden die täglichen Zahlen über die an Europäischen Grenzen Krepierenden unter “usual stuff” notiert. Einziger neuer Trend: Beobachtungsflüge und Hilfe leistende Schiffsbergungen werden beschränkt oder ausgesetzt, damit Katastrophenszenarien erst gar nicht sichtbar werden. Menschen sterben besser unbeobachtet.

Was bleibt einem Filmemacher zu tun, angesichts der banalisierten humanitären Katastrophe? Markus Imhoof wählt in dem auf der diesjährigen Berlinale gezeigten Dokumentarfilm “Eldorado” den Weg persönlichster Erinnerungen, mehr als das, er offeriert dem Publikum seinen im Off mit zarten Stimmen erklingenden frühkindlichen Briefwechsel mit Giovanna, einem ausgehungerten italienischen Mädchen, das seine Familie am Güterbahnhof der Schweizer Heimatstadt während des zweiten Weltkrieges unter vielen dort wartenden notleidenden Kindern auswählte, um unter ihrem Dach einen zeitlich befristeten Schutz zu finden. Er imaginiert diesen zarten und sensiblen Dialog bis in die Gegenwart sich fortsetzend.

The Trial: The State of Russia vs Oleg Sentsov

“Eldorado”, Markus Imhoof

 

Der Weg zum Bahnhof war – wie Imhoof sehr viel später erfuhr – keine rein individuelle Hilfsaktion, sondern basierte auf einem Abkommen mit den deutschen Faschisten, die einen Juden, der Visa und Reiseticket für die US-Staaten vorweisen konnte, zum Hafen nur unter der Bedingung durchliessen, wenn die Schweiz sich verpflichtete, drei notleidende Kriegskinder aufzupäppeln.

In Zeiten allgemeiner Rationalisierung teilte Imhoofs Familie ihre Nahrung mit ihrem Gast, für den trotz aller Beschränkungen dies immer noch ein niemals gesehener  Reichtum war. Nach einigen  Monaten wird Giovanna zur Rückkehr nach Italien gezwungen. Noch einmal kann sie bald darauf die Familie besuchen, bevor sie erneut zurückkehren muss zu ihrer in ärmlichen Bedingungen lebenden Mutter. Dort stirbt sie bald darauf aufgrund mangelnder ärztlicher Betreuung.

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Die Rückkehr zu seiner eigenen kindlichen Wahrnehmung erlaubt es Imhoof, der medialisierten Banalität der Grausamkeit ein anderes, weit sensibleres Perzeptionsniveau entgegenzustellen. Von hier aus richtet er seine Kamera auch auf die aktuellen Konfliktzonen und geht Schritt für Schritt den skandalösen “Paradoxen” neoliberalistischer Weltpolitik nach. Die ersten Bilder zeigen Ertrinkende an der italienischen Küste. Er dokumentiert Einsätze der Operation “Mare Nostrum”, die bis heute ca. 100 000 Menschen aus Seenot rettete.

Ein erstes Paradox ist schnell gefunden. Die von küstenlosen europäischen Staaten diktierte und verabschiedete absurde Regel der Erstregistrierung, der einen Staat permanent und  ausschliesslich für das Schicksal eines Flüchtlings verantwortlich macht, selbst wenn dieser bereits Verwandte in anderen europäischen Staaten hat. Diese Regel konnte nur zu nationalistischen Verhärtungen führen, wie Italien heute klar demonstriert. Imhoof dokumentiert zugleich einen Verwaltungsapparat, der durch die Menge der Hilfssuchenden rettungslos überfordert wird. Auf dem Rettungsboot wiederholt sich für Imhoof die schmerzliche Erfahrung am Güterbahnhof. Er schaut in hoffende, hilfesuchende Augen, ohne allseits effiziente Hilfe leisten zu können. Er sieht entkräftete Körper, um 1500 Euro von Schleppern beraubte Menschen im überlasteten italienischen Rettungsboot, wo es in Gefahrsituationen auch einmal zu Meutereien kommen kann, Menschen auf dem Weg zu ebenfalls überfüllten Lagern, wo sie zwischen 8 und 15 Monate verbringen, traumatisiert, oft voller Scham, oft nicht in der Lage, ihre Erlebnisse  jemanden anzuvertrauen, auf ein Asyl hoffend. Immer wieder trifft Imhoof auf das Unbehagen verantwortlicher Institutionen. Die Behörden befürchten, als zu unmenschlich oder zu tolerant zu erscheinen, und in Folge dessen Angriffen vom rechten oder linken Lager ausgesetzt zu sein.

Konsequent öffnet Imhoof den Blick auf all die von der Hilflosigkeit Profitierenden. Er registriert das Leben in Ghettos und die Sklavenarbeit in glühender Hitze in Süditalien, entlohnt mit lächerlichen täglichen 15 Euro. Er zeigt Menschen, die für den Staat nicht existieren, und folglich rechtlich schutzlos sind, kontrolliert von der Mafia, die nicht scheut, zuweilen auch auf ihre Opfer einzuschlagen, geduldet vom Staat, den Ordnungskräften und einer Bevölkerung, die allesamt wegschauen, nicht nur in Italien. Ein Gewerkschafter versucht in Eigeninitiative zu wirken, verhilft Imhoof Eintritt in ein Camp, wo er fatale hygienische Bedingungen vorfindet, Dreck, Gestank und Dioxin, kaum Trinkwasser. Frauen wird selbst der Zugang zur Feldarbeit versagt. Sie müssen sich prostituieren. Nachts stehen italienische Anwohner Schlange, um zu von ihrer Not zu profitieren.

Auf der anderen Seite, in der Schweiz, werden Migranten in Bunkern untergebracht, die eigentlich als kurzeitige Fluchtstätten in Kriegszeiten dienen sollten. Bei den Migranten können sie leicht Erinnerungen an Entwürdigung, Raub, Folter  und Vergewaltigung in lybischen Gefängnissen wachrufen.      Reichere Schweizer Ortschaften kaufen sich für 250 000 Franken frei, überhaupt Migranten beherbergen zu müssen.

Imhoof erinnert an die nicht minder umfangreichen Migrantenströme des 19. Jahrhunderts und der durch Weltkriege Vertriebenen. Damals suchten hunderttausende Europäer nach neuen Überlebensstätten. Schliesslich richtet er den Blick auf die eigentliche Ursache der Migration, die systematische multinationale Ausbeutung der Drittweltländer, die ohne eigene Produktionsstätten ihren Rohstoffe beraubt werden und zynischerweise die bei ihnen unter Hungerlohnbedingungen geernteten Güter – Imhoof wählt das Bespiel der Tomatenproduktion – in Form von nun teuer zu erwerbenden Konserven zurückgeliefert bekommen. Andererseits werden innerafrikanische Produktionen  - wie Imhoof angesichts der Milchprodukte exemplifiziert - durch zollentlastete Dumpingpreise der exportierenden Europäische Gemeinschaft zerschlagen.

Dieser eingespielte Urmechanismus der Katastrophe versetzt die lokalen Bevölkerungen in einen permanent ausweglosen Notzustand. Das resultierende Dahinvegetieren ohne medizinische Versorgung und sozialen Schutz, von kulturellen Angeboten und Ausbildungsstätten zu schweigen, lässt die in Europa täglich praktizierte ideologische Differenz zwischen politischen und Wirtschaftsflüchtlingen als ebenso hybrid wie verlogen erscheinen. Europa partizipiert an einem perfektionierten permanenten kriminellen Akt. Es schliesst Allianz mit all den vom Ausbeutungssystem Profitierenden. Für Verbrechen, die in lybischen Gefängnissen und anderswo täglich praktiziert werden, gibt es weder Ankläger noch Richter. Systematischer Folter und Mord werden von der Europäischen Gemeinschaft und ihren Bürgern in Kauf genommen, mehr noch, man will hier in noch höherem Masse davon profitieren. Nun zahlt die EU und Italien Kopfgeld an Lybien, um Asylsuchenden gleich die Möglichkeit zu verwehren, überhaupt einen Antrage stellen zu können. Die im Meer treibenden Flüchtigen sollen sogleich den lybischen Clans ausgehändigt werden.

 

The Trial: The State of Russia vs Oleg Sentsov

“Eldorado”, Markus Imhoof

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Angesichts dessen wirkt das Schweizer Paradox fast harmlos: hier arbeiten Asylsuchende für 3 Franken Stundenlohn. Gleichzeitig zieht man es vor, an der Entwicklung von Robotern zu arbeiten, etwa um Pflegepersonals zu entlasten, als Hilfsbedürftigen Arbeitsplätze anzubieten.

Imhoof verquickt die persönlichsten, auch schmerzhaftesten Erfahrungen mit einer kühlen analytischen Bestandsaufnahme. “Eldorado” schafft einen nur allzu notwendigen empathischen Blick auf den fortlaufenden Massenmord. Nur Empathie scheint heute noch ein Motor von Aktion sein zu können, um routinierte emotionale Abschottungsmechanismen zu durchbrechen.

Markus Imhoof
Eldorado
Switzerland, Germany / 2018 / 92 min rouge

 

 

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68. BERLIN FILM FESTIVAL

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15 - 25 / 02 / 2018, Berlin

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