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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 29. FESTIVAL INTERNATIONAL DE CINEMA MARSEILLE FID I Again and Again… I VON DIETER WIECZOREK I 2018

FID Marseille 2018

Again and Again…Ein Festival der Überraschungen

 

 

VON DIETER WIECZOREK

FID Marseille

FID Marseilles

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Marseilles FID Festival macht es sich und dem Publikum nicht einfach. Die ist eine gute Nachricht, denn der nach wie vor beeindruckende Zuschauerzufluss zeigt, dass Programme und Filme, die Standards entraten und den Zuschauer oftmals in einen orientierungslosen Zustand versetzen, durchaus begehrt sind. Die vielleicht wichtigste Funktion der Filmkunst, sehen zu lernen, sensibilisiert zu werden, wie manipulierend effizient Repräsentationsstandards als Wirklichkeitsproduktionsmaschinen wirksam sind, wird in FID praktiziert. Sehen lernen heisst, in die Marginalität einzutauchen, in Details, die sich keiner narrativen Ordnung einfügen. Hier beginnen die Dinge, die Wirklichkeit, sich selbst zu kommunizieren.

Bewusst sucht FID die Allianz mit anderen Kunstformen. Literarisch komplexe Texte bilden oft ein äquivalentes Gegengewicht zur Bildschau. Fremdartige, überraschende Interferenzen blühen hier auf. Oftmals wünscht man sich, einen Film auch mehrfach sehen zu können, da eine einmalige Sichtung die visuelle nd konzeptuelle Komplexität oft nicht zu erfassen vermag. Auch Gesang und Komposition sind häufig integrierte Elemente, bis hin zur reinen Konzertaufzeichnung. Künstlerporträts und Kunstperformances im engeren Sinne bilden weitere wichtige Bestandteile der Programmgestaltung. Improvisation, selbst während der Filmerstellung, gilt in Marseille nicht als Schwäche, sondern als Herausforderung.

Viele dieser Filme sind  kaum zu resümieren. Folglich nehmen die beschreibenden Katalogtexte oft die Form einer literarischen Begleitung der Werke an, die Neugier erwecken, ohne Synthesen anzubieten. Der Zuschauer muss sich seinen eigenen Weg durch das Labyrinth suchen. Ästhetisches Abdriften wird zur intensiven Erfahrung, zur Stimulanz der Sinnsuchlust.

FID Marseilles

“Tomorrow ”, Yuliya Shatun

 

Vielfalt ist angesagt im FID. So finden sich hier ebenso stille, fragile, meditative oder schlicht beobachtende Filme. Ein zu nennendes Beispiel ist "Tomorrow", Erstlingswerk der jungen weissrussischen Filmemacherin Yuliya Shatun, der mit dem  “Premier Film” (Prix Premier) Preis ausgezeichnet wurde. Shatun nimmt sich Zeit das den tristen Alltag eines älteren Paares nachzuzeichnen. Der ehemalige Englischlehrer teilt nun Flugblätter aus. Materiellen Beschränkungen sind überall spürbar. Doch das einvernehmliche, zärtliche, weder rebellierende noch anklagende Zusammenleben des Paares verleiht dem Film seine Aura und existenzielle Schönheit. Ein besonders intimer Blick bis in kleinste Details gelingt, da das Paar Shatums eigenen Eltern sind. Das routinierte Leben wird plötzlich aus der Bahn geworfen durch die Nachricht, dass sie eine Reise in südliche Fernen gewonnen haben. Die erste Reaktion der überraschten Frau: sie habe kein Badekostüm. Dies wird ihr auch helfen, als die Nachricht sich schliesslich als Fake entpuppt. Ihr Lebenspartner war zuvor aufgebrochen in die benachbarte Grosstadt, ein nicht leicht zu absolvierendes Abenteuer angesichts ihrer kleinen, geordneten Welt.

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Die Trennlinien zwischen Fiktion und Dokumentarfilm verschwimmen, wenn es gelingt, durch die Nachkonstruktion eines konkreten geopolitischen Ambientes ein spezifisches Lebensgefühl, Einschränkungen, Ängste, Bedrohungen und Hoffnungen erfahrbar zu machen. Diese Qualitäten hat zweifellos das bereits im Forum der Berlinale 2018 Aufsehen erregt habende Werk "An Elephant Sitting Still“ Hu Bos. Der junge chinesische Filmemacher nimmt sich 230 Minuten Zeit, um Jugendlichen in der nordchinesischen Provinz bei ihrer Sehsucht nach einem Ausweg aus ihrer depressiven Misere zu begleiten.

Allein die Zugfahrt in die benachbarte Grosstadt Manzhouli verspricht eine Hoffung auf Neuanfang. Die Fluchtmotive reichen von Strafverfolgung wegen eines Unfalls, vor Anfeindungen aufgrund eines online gesetzten Sex-Videos, vor Demütigungen durch verlogene Schullehrer oder schlicht vor einem erdrückenden Elternhaus, bis hin zu Schuldgefühlen wegen eines nicht verhinderten Selbstmordes eines Freundes. Unter den Flüchtigen  findet sich auch ein Rentner, der von seinem eigenen Sohn aus seiner Wohnung vertrieben wurde, um sie anderweitig zu vermieten. In diesem hermetischen Kosmos geprägt von enger Moral und drückender Hierarchie gibt es keine Gegenkräfte, Alternativen oder emotionale Hilfen. Egoismen und latente Gewalt dominieren. Bo beschränkt sein Gesellschaftsporträt auf nur einen Tag. Vom frühen Morgen bis in die Nacht folgt die Kamera den Protagonisten. Er verstrickt die getrennten Schicksale kunstvoll zu einem Potpourri der Enttäuschungen und Depressionen. Der Titel erinnert an die Legende des Elefanten, der einfach still sitzt und die Welt ignoriert, die einzige mentale Lösung, wenn die Verhältnisse festgefroren sind. Das überaus beeindruckende Werk wird Hu Bos letztes bleiben. Er nahm sich am 12 Oktober 2017 mit 29 Jahren das Leben.

 

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"An Elephant Sitting Still ", Hu Bos

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In die Kategorie der ‚Straight Forward’-Dokumentarfilme gehört zweifellos das in FIDs "Erstfilmwettbewerb“ gezeigte Werk "Combat Obscura“ des US-Amerikaners Miles Lagozes. Über Jahre hinweg war dessen Job, Propagandafilme zur Rekrutierung neuer Soldaten für das Film-Abteilung der US-Marine in Afghanistan zu erstellen. Doch Lagoze schaltete die Kamera nicht aus, wenn die Propagandasequenz abgedreht war. Dies will nicht heissen, mit versteckter Kamera zu arbeiten. Im Gegenteil, die Soldaten nutzten ihre Anwesenheit zur Selbstdarstellung und zuweilen zu Bekenntnissen, nach denen sie sonst niemand fragt. So kann Lagoze ein Werk nach Marseille bringen, das gewiss spontan und geflickt wirkt, zwischen gestellten Szenen und reiner Dokumentation des Augenblicks pendelnd, das aber doch ein dichtes und nahezu lückenloses Porträt des wirklichen Lebens im Ausnahmezustand zeigt. Eine der schockierendsten Szenen setzt Lagoze gleich an den Anfang: die Soldaten haben aus Versehen ein falsche Gebäude zerstört und dessen Einwohner getötet. Dies kann passieren, wo billiger Haschkonsum Alltag ist, von stärkeren Mittel zu schweigen. Er fängt das verblüffende Miteinander der Ausübung brutalster, technisch perfektionierter Gewalt mit Momenten berauschter Tänze und Gesänge ein, Spiele und natürlich viel Alkohol, um dem Dauerstress standzuhalten. Ein Soldat bekennt, dass diese Kriegserlebnisse besser seien ein Orgasmus seien, ein anderer, dass es für ihn genau dieser erhoffte Adrenalinschub war, der ihn motivierte , sich zum Einsatz zu melden. Hilflos wirken diese Soldaten nur, wenn sie Kontakt aufnehmen wollen mit Einheimischen.

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“Combat Obscura ”, Miles Lagozes

 

Lagoze zeigt ihr Verunsicherung, zwischen hysterischer Angst und sentimentaler Kinderliebe die emotionalen Niveaus wechselnd. Sie verlieren allen kulturellen Anstand, wenn es um ihre Interessen und Sicherheit geht. Diese US-Repräsentanten schaffen sich durch ihr deplaziertes Verhalten letztlich Feinde über Generationen hinaus. Dass die gedemütigte Bevölkerung zuweilen zu radikalen islamischen Lagern wechselt wird hier leicht nachvollziehbar. Geradezu grotesk wirken die Szenen, in denen sich die Soldaten vor der Kamera an ihre Familien in der Heimat richten, um ihre  Weihnachtsgrüsse zu übermitteln. Hier werden sie wieder erkennbar als die Kleinkinder, die sie stets geblieben sind, allerdings mit gefährlichen Instrumenten versehen, unfähig, ihre Wirklichkeit zu reflektieren. In ihren Grussworten erwähnen sie ihre gute Zeit und starken Erlebnisse im afghanischen Kriegstreiben, dann unvermittelt den schlichten Wunsch, bald wieder zu Hause zu sein. Lagoze schafft ein wichtiges Dokument zum mentalen Stand der Dinge der Bodentruppen, ein Beitrag der verständlich macht, wie und mit wem Krieg möglich ist.

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Ein unbestrittener Höhepunk der 2018 Edition FIDs war die Präsentation von Wang Bings "Les amês mortes“ (Die toten Seelen), in Anwesenheit und verbunden mit einer Meisterklasse des Regisseurs. Das bereits in Cannes als Sonderprogramm gezeigtes Werk nimmt sich über 8 Stunden Zeit, um den Überlebenden der Erziehungslager Jiabiangou und Mingshui eine Stimme zu geben. Der Grossteil der Inhaftierten verhungerte, erlag Krankheiten oder kam ungeschützt in der grossen Wärme und Kälte der Gansu Provinz im nordwestlichen China um. Häuser gab dort für die Inhaftierten nicht. Die Gefangenen mussten sich ihre notdürftigen Unterkünfte selbst bauen. Zuweilen schützten sie ihre Körper, indem sie sich nachts in dem steinigen Grund eingruben.

Die Gobi Wüste ist immer noch übersät von Skeletten der hier ab 1957 zu Zwangsarbeit Verurteilten und entkräftet Krepierten. Selbst sie zu beerdigen überstieg die Möglichkeiten ihrer Mitgefangen. Wang Bing richtet seine Kamera frontal auf seine Gesprächspartner. Jede einzelne dieser Erinnerungen ist schmerzhaft. Ihre Erzählungen berühren Tabugrenzen, wie das Praktizieren zum Überleben notwendiger kannibalischer Akte. Selbst Familienangehörige wurden geopfert und verzerrt. Dem Horror war keine Grenze gesetzt. Wang Bing begleitet einige Opfer auch bei ihrer Rückkehr an den Ort des Schreckens, wo sie in Ritualen der Toten gedenken, denen sie oftmals ihr Leben verdanken. Sie alle begannen den Fehler, Maos Aufforderung zur kritischen Meinungsäusserung  und zur Benennung konkreter Missstände zu folgen. Unter ihnen waren überzeugte Kommunisten und Arbeiter, doch jede Infragestellung wurde als ultrarechte Einstellung gebranntmarkt und mit Deportation bestraft. Viele der von Wang Bing Porträtierten zeichnen sich durch bemerkenswerte Persönlichkeitsprofile aus. Horror und Absurdität gerinnen in eins. Ihre stets an radikalste Grenzsituationen reichenden Erinnerungen lassen die Stunden fast unbemerkt verstreichen.

 

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"Les amęs mortes ", Wang Bings

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Wenn die Kameras abgeräumt werden, da der Krieg scheinbar sein Ende nahm, beginnen erst die problematischen Jahrzehnte. Die mörderischen Ereignisse zwischen Serbien und Kroatien sind Ausgangspunkt eines Theaterstückes, in dem eine sehr junge serbische Frau die Rolle der Aleksandra Zec in einem von Oliver Frlji? inszenierten, improvisierenden Theaterstück spielt. Aleksandra Zec, serbischer Herkunft,  wurde als 12jährige 1991 brutal gelyncht, als Kroatien von Serbien militärisch massiv bedroht wurde. Die junge Schauspielerin, wie auch alle sie umgebende Schauspieler, werden angesichts der Vergangenheitsevozierung mit ihren eigenen traumatischen Erinnerungen konfrontiert, die bis heute nicht nur andauern, sonders auch frisch genährt werden. Nebojša Slijep?evi? zeigt in  "Srbenka“ (Kroatien, 2018) das weite Spektrum unverarbeiteter, latenter Ängste und Aggressionen, die jederzeit wieder Raum greifen können. Der Theaterraum wird zum Schauplatz, der als solcher kontrollierende und reflektierende Instanzen aktivieren kann, zumindest bis zu einem gewissen Mass.

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“Srbenka”, Nebojsa Slijepcevic

 

Bleibt die Bühne leer, werden Stimmen der Schauspieler im Off laut, die ihre eigenen Erfahrungen artikulieren. "Srbenka“ erinnert gewiss an Jon Haukelands "Reunion – Ten Years after the War“ (Norwegen, 2011). Hier wurden Menschen der verschiedenen Kriegslagern vor und nach dem Krieg unter moderierten Bedingungen zusammen gerufen, um den Versuch einer Kommunikation zu wagen. Bis heute wird dieses Werk als Beitrag der immer wieder zu versuchenden Verständigung in Konfliktsituationen genutzt. Karlovy Vary zeigte 2017 die fiktionale Version eines solchen Projekten, den ebenso höchst beeindruckenden Spielfilm „Men don’t Cry“ Alen Drljevi?s (Bosnien-Herzegowina, Slowenien, Kroatien, Deutschland, 2017). Einen Dialog zu ermöglichen, angesichts der nach wie vor vehementen Kräfte religiöser, ethnischer oder nationaler Territorialisten scheint eine der dringendsten Aufgaben, um die dämmernden Dämonen zu bannen rouge


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29. FESTIVAL INTERNATIONAL DE CINEMA MARSEILLE

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10 - 16 / 07 / 2018

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