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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 52. KARLOVY VARY INTERNATIONAL FILM FESTIVAL I Die Sichtbarkeit der Konfliktzonen I VON DIETER WIECZOREK I 2017

Die Sichtbarkeit der Konfliktzonen

In Karlovy Vary Weltfestival stehen selbst im Wettbewerbsprogram vorwiegend signifikante aktuelle Problematiken im Zentrum

 

von Dieter Wieczorek

“Birds Are Singing in Kigali", K. Krauze und J. Kos-Krauze

Birds are Singing

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Werden Kriege wirklich beendet? Gewiss nicht durch Deklarationen und wohl kaum in massakrierten Terrains wie dem ehemaligen Jugoslawien. Es scheint eine heilsame Idee, einige Teilnehmer der befeindeten Lager des blutigen Krieges an einem Ort zusammen zu bringen, um zumindest die Erfahrungen der anderen Seite kennen, vielleicht auch akzeptieren zu lernen, und am Ende gar eigenes Versagen und Schuld sich einzugestehen. Ein abgelegen hoch in den Bergen liegendes Hotel scheint ein hinreichend neutraler Ort für diesen subventionierten Versuch. Die erste Phase der Begegnung ist dominiert von üblichen Männlichkeitswitze und Gebärden, in dieser Region scheinbar quasi unvermeidbar. Erste Irritationen liefern die kleinsten Eingeständnisse, vielleicht doch versagt haben zu können, zumindest nicht im Alleinbesitz von Wahrheit und Opferposition zu sein. Die Wiedererweckung der traumatischen Erfahrung, brillant dargeboten von gesamten Team weithin bekannter Schauspieler, führt letztlich zur Katharsis, dem Erkennen der eigenen Schuld und die erst damit sich eröffnende Möglichkeit eines Neuanfangs mit den “Mitschuldigen”. “Men Don’t Cry” des bosnischen Filmemachers Alen Drijevi? (geb. Sarajevo) gestaltet diesen schmerzhaften Prozess in unterschiedlichsten Varianten und Stadien, von dem Mobiliar zertrümmernde Trinkgelagen bis hin zum Selbstmordversuch. Erinnert sei daran, dass ein solches Treffen von Protagonisten unterschiedlicher Lager tatsächlich zustande kam, auch bereits im Vorfeld des Krieges, um gemeinsam über Möglichkeiten seiner Vermeidung zu diskutieren. Aufgezeichnet wurde das Ereignis vom norwegischen Dokumentarfilmer Jon Haukeland (“Before the Bombs”, 1999). 2011 folgte Haukelands ebenfalls dokumentarisches Werk über die Wiederbegegnung der Überlebenden der damaligen Teilnehmer, eine Gruppe nunmehr traumatisierter Ex-Kriegsgegner (“Reunion: Ten Years After War”). Vergleicht man die aktuelle fiktionale und die einstige dokumentarische Version bleibt die Kapazität der psychodramatischen Zuspitzung zur exemplarischen Kristallisation der Fiktion festzuhalten, der Dokumentarfilm jedoch lässt mehr Raum für Nuancen und nicht plakative Deutungen und Gefühle.

Arrithmiya

“Arrithmiya”, Boris Chlebnikov

 

Fiktionale Filme degradieren oftmals problematische Konfliktfelder (Kriegsgebiete, Katastrophen- oder Fremdkultur-Sets) zum Hintergrundsdesign, über das wohl bekannte, mehr oder weniger banale Geschichten des Menschlich-Allzumenschlichen gestülpt werden. Diesen Vorwurf kann man dem russischen Filmemacher Boris Chlebnikov (geb. Moskau, 1972) angesichts seines Filmes “Arrithmiya” nicht machen. Zwar geht es auch hier auf der Oberfläche um ein sich auseinander gelebt habendes Paar, ein Mann, verloren im Berufsstress, der gern abends zur Flasche greift und eine Frau, die ihre Geduld verliert und Scheidung fordert. Ist diese Beziehung jedoch bereits nuancenreich dargestellt, die Zweifel des Paares degradieren nicht zur Lieblosigkeit, ist zweifellos das eigentliche Konfliktfeld “Arrithmiys” die komplizierte Realität des Sanitätsdienstes im Kompetenzstreits mit der Ärzteschaft, genauer, die zu handhabenden absurden Konsequenzen der russischen Gesundheitsreform, die zuweilen das Leben der Hilfsbedürftigen aufs Spiel setzen, um den Regularien zu folgen.

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Angereichert wird das Konfliktpotenzial durch Abwiegelungsstrategien der Institutionen bei Recht- und Informationsansprüchen sowie den internen Degradierungen des Personals. Auf den Helfer der ersten Minuten, den Ambulanzen, liegt die tägliche Last der Entscheidung zwischen humanen und legitimierten Verhalten. Mit anderem Worten, Chlebnikov aktiviert den “Background” zum Hauptschauplatz. Der Zuschauer profitiert von Informationen über die der Öffentlichkeit meist verborgenen Machenschaften.

Ein weiteres, noch radikales Werk der Aufdeckung strategischer Machenschaften in Grossbetrieben und multinationalen Konzernen, hier situiert in Frankreich, fand gleichfalls Eingang in Karlovy Varys Official Selektion Wettbewerb. Mit “Corporate” bietet Nicolas Silhol (geb. 1976) einen Einblick in die Arbeit der Personalmanagements, das zuweilen spezifisch geschult wird, um die legitimen Rechtsansprüche seiner Arbeiterschaft abzuwiegeln und Entschädigungszahlungen zu meiden. Ein aufgezwungener Ortswechsel, die für die Arbeiter meist unmöglich zu akzeptieren sind, ist nur eine der hier greifenden Strategien. Demütigungen, Karriereblockaden und Degradierungen aller Art seitens der Vorgesetzen sind weitere. Ziel ist, die Opfer zu einer Kündigung in eigener Verantwortung zu veranlassen. Wie aber kommt die verantwortliche Personalchefin mit ihrer Rolle zurecht, vor allem, wenn sie mit dem Selbstmord eines ihrer Opfer konfrontiert wird?

 

Corporate

"Corporate", Nicolas Silhol

Trailer

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Welche Fluchtwege bleiben ihr? Selbst der Weg zur Arbeitsaufsicht oder zu den Gewerkschaften, der extrem selten beschritten wird, bedeutet er doch das sofortige Karriereende, ist nur dann Erfolg versprechend, wenn Beweise über derartige interne Vorgänge geliefert werden können. Nicolas Silhol weiss, wovon er spricht. Neben seiner Karriere als Filmemacher, bereits mit früheren Werken in Toronto und Cannes aufgefallen, ist er nicht nur Sohn eines Personalchefs, sondern unterrichtet auch selbst Management an einer Hochschule. Mit “Corporate” schafft er einen Film mit einem hoffnungsvoll stimmenden, fulminanten Plot, der auch notwendig ist, um die kristallinen Machtstrukturen der Multinationalen zumindest einen Augenblick lang zu unterminieren.

Daha

“Daha”, Omar Saylak

 

Auch “More” (Daha) bestätigt die besondere Aufmerksamkeit Karlovy Varys für aktuelle Konfliktfelder im Hauptwettbewerb. Das Spielfilmdebüt des türkischen Filmemachers Omar Saylak, der bereits als Schauspieler in “Autumn” (Regie Özcan Alper, 2008) auf sich aufmerksam machte, taucht ein ins Milieu des Menschenhandels an der ägäischen Küste. Ein terrorisierender alkoholsüchtiger Schmuggler, der auf seinem Gelände Flüchtlinge des mittleren Ostens vor ihrer Ausschiffung in einem Keller einpfercht, degradiert seinen 14jährigen Sohn Gaza, der Interesse und Talent für Astrologie und Physik bewiesen hat, zu seinem Handlanger. Von den Kumpanen seines Vaters wird der junge Mann mit den üblichen Männlichkeitsrituale initiiert. Endgültig verliert er seine Unschuld, als er einziger Zeuge wird der Vergewaltigung einer jungen Frau durch seinen Vater und der folgenden Ermordung ihres Sohns. Selbst bei der Beseitigung der Leichen muss er assistieren.

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Gleichzeitig Zeuge des Leides der Gefangenen verhärmt sich der junge Mann zunehmend. Noch einmal versucht er, sein eigenes Leben zu führen. Er flieht zu der prestigeträchtigen Schule in Istanbul, die seine Aufnahme akzeptierte. Doch seine Reise dorthin wird frühzeitig von der Polizei beendet. Er muss erkennen, wie weit die Fänge des korrupten Systems reichen, in dessen Zentrum sein Vater agiert. Nun bleibt ihm nur noch die Flucht nach vorne. Er brutalisiert sich noch über das Niveau seines Vaters heraus. Während die Gefangenen, die wegen einer Schlechtwetterlage nicht ausgeschifft werden können, im verschlossenen Keller ihrem Erstickungstod nahe sind, trinkt er auf seinem Sessel mit Blick auf die Meeresbucht ein Bier. Der Kontakt auf die Krepierenden ist auf den Monitor einer Beobachtungskamera beschränkt. Die realitätsnahe psychodynamische Entwicklung eines sensiblen jungen Mannes zu einem skrupellosen Handlanger in einem dafür hinreichend fruchtbaren Milieu ist ebenso überzeugend wie erschreckend, Gegenteil eines hoffnungsvollen Plädoyers für die Zukunft der Menschlichkeit.

Ein weiteres Konfliktfeld, die immer noch spürbaren Konsequenzen des Genozids in Ruanda 1994, schlägt der Wettbewerb mit “Birds Are Singing in Kigali” (Ptaki ?piewaja w Kigali) auf. Das Filmemacherpaar Krzysztof Krauze und Joanna Kos-Krauze lebte drei Jahre in Afrika. Nach dem 2014 Krebs zum Opfer gewordenen Ehemann oblag es Joanna, den Film zu beenden. Schraffe Strukturen mit abrupten Brüchen, komplexe und ambivalente Personengestaltung und eine oft enigmatische Bildkonzeption kennzeichnet ihren Film, in dessen Zentrum sich das Schicksal zweier Frauen unterschiedlicher Kulturen entfaltet. Die polnische Ornithologin Anna, die zum Studium der Aasgeier nach Ruanda kam, wird dort Zeuge des Völkermordes an den Tutsi. Sie kann lediglich die Tochter ihres ebenfalls massakrierten Kollegen retten. Es gelingt ihr, sie nach Polen auszuschleusen. Dort finden beide Frauen jedoch keine Ruhe. Die junge Tutsi Claudine rebelliert gegen jede Form der Vereinnahmung oder Entwürdigung, wie etwa die seitens der Einwanderungsbehörden. Ihre Gefühlszustände vagabundieren zwischen Angst, Zorn und Hilflosigkeit.

 

Birds

"Birds Are Singing in Kigali ", Krzysztof Krauze und Joanna Kos-Krauze

Trailer

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Ebenso lehnt sie eine Opferrolle ab. So zieht sie es vor, im Asylantenheim anstatt bei ihrer Retterin Unterkunft zu finden. Anna dagegen findet nicht zu ihrer vormaligen Identität zurück und will selbst ihre Forschung aufgeben. Zu sehr sind Aasgeier in menschlicher Gestalt zu ihrer Wirklichkeit geworden. Der Film ist durch vornehmlich verwaschene, abgedunkelte Farben charakterisiert. Eine Vielzahl von Elementen treten oftmals ins Bildfeld, die sich schlichter Signifikation entziehen. Häufig wird der Blick auf die Protagonistin verstellt durch davor sich setzende Natur- und Architekturelemente. Nichts scheint klar oder eindeutig in diesem Werk, dass die innere Gebrochenheit der Protagonisten überzeugend in formale Sprache übersetzt. Als die Machtverhältnisse in Ruanda sich wandeln kehrt Claudine, von Anna gefolgt, dorthin zurück, um ihre Toten zu begraben und Überlebende zu finden. Doch auf diesem Terrain, das wie ein Protagonist es auf die kurze Formel bringt, „noch Hunderte Jahre brauchen wird, um zur Ruhe zu kommen” in dieser immer noch fragilen Zone, in der latente Gewalt überall spürbar ist, kann auch keine Seelenheilung gelingen.

Neben der “Official Selektion”-Wettbewerbsprogramm bietet Kartovy Vary einen weiteren, “East of the West” betitelten Wettbewerb, in dem Filme aus baltischen Regionen, dem Balkan, Osteuropas, der Türkei, Georgiens und er tschechischen und slowakischen Republik repräsentiert sind. Hier viel besonders der slowakisch-tschechische Beitrag “Nina” Juraj Lehotskýs (geb. Bratislava, 1975) ins Auge. In subtil psychologischer Beobachtung folgt der Film der 12jährige Nina, Tochter eines geschiedenen und zerstrittenen Paars auf der Suche nach sich selbst. Schockiert von der Kälte und Nonchalance ihrer Mutter, die ihr Leben bereits mit einem neuen Partner begonnen hat, flieht sie zu ihrem Vater, ein einfacher Arbeiter ohne Ambitionen, doch weitaus sensibler für die einzige Passion seiner Tochter, das Wettschwimmen.

Nina

“Nina”, Juraj Lehotský

 

Er ermutigt und toleriert ihre Wünsche, auch wenn sie ein gewisses physisches Risiko für die Jugendliche darstellen. Während die Mutter das Lebensmodell Law and Order repräsentiert, lebt der Vater das Laissez-faire. Gewiss ein Höhepunkt in Lehotskýs Film ist das Auftreten des Vaters in der Schulklasse Ninas, eingeladen zu einer Art Selbstpräsentation im Rahmen einer didaktischen Lebensorientierung für die Schüler. Da Nina um den kaum Erfolgsmodellen nachbildenden Lebensstil ihres Vaters weiss, folgt sie dieser Schulstunde mit Unbehagen. Doch als dieser aufgefordert wird, einen Song seiner Wahl zu singen, folgt er dieser Einladung gerne und reisst die Klasse, einschliesslich Nina durch seine schlichte Lebensfreude mit. Im Gegensatz zu eher freudlos strukturierten Mutter hat dieser Mann eine schlichte innere Poesie intakt gehalten, eine innere Freiheit, die für die Tochter gewiss auch zuweilen als Distanz wahrgenommen wird. Als ein neuer Konflikt zwischen den Eltern aufflammt, flieht Nina…zu sich. Der Film lässt ihr Schicksal offen, während die Eltern sich mit dem von ihnen selbst geschaffenen verantwortungslosen Desaster konfrontiert sehen.

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Als nicht minder beeindruckend ist “Blue Silence” von Bülent Oztürk zu nennen, ein subtiler Beitrag zu den aktuellen, zum “Terrorismus” tendierenden Staaten. Der aus einem kurdischen Dorf stammende Öztürk (geb. Baglarbasi,1975), der als politischer Flüchtling in den Niederlanden Fuss fassen konnte, stellt einen traumatisierten türkischen Soldaten und Agenten in den Mittelpunkt, der sich nach einem Breakdown in psychiatrischer Behandlung wiederfindet. Nur langsam, Schritt für Schritt, wird der Grund seines Zusammenbruchs erkenntlich. Zunächst sieht man den Mann um sein Überleben und seine Würde kämpfen. Selbst in der Psychiatrie ist sein Verhalten beeindruckend, dergestalt, dass eine Krankenschwester die üblichen Distanzhürden überschreitet und den Mann als Person, nicht als Patienten behandelt. Sein Wille, sich wieder seiner Tochter anzunähern, ist ungebrochen. Endlich entlassen will er von Ehrungen seitens der Armee nichts wissen. In dunklen, langsamen Sequenzen wird schliesslich der Ursprung seines Traumas konturiert: er wurde Zeuge und damit Mitschuldiger an einem politischen Auftragsmord, dem auch ein unschuldiger Jugendlicher zum Opfer fiel. Der Ex-Agent ist ab da an in seinem Land heimatlos.

 

Blue silence

"Blue Silence ", Bülent Oztürk

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Erwähnenswert ist die Soundgestaltung, der teils wie ein verlangsamter Herzschlag fungiert, teils mechanische Kriegsgeräuschen und Klänge katastrophischer Ereignisse im Off als Rückkehr des Verdrängten in diesem beeindruckenden Werk anklingen lassen rouge

 

 

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52. KARLOVY VARY INTERNATIONAL FILM FESTIVAL

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30 / 06 - 08 / 07 / 2017, Czech Republic

Karlovy Vary

 

 

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