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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 28. FESTIVAL INTERNATIONAL DE CINEMA MARSEILLE FID I VON DIETER WIECZOREK I 2017

Zelebration der Andersheit

Das 28. Marseiller FID Festivals bestätigt erneut seinen Ruf als Fundgrube des abweichenden Films

 

 

VON DIETER WIECZOREK

FID Marseille

FID Marseilles

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Das FID ist zweifellos eines der außergewöhnlichen Festivals nicht nur Frankreichs. Über die Jahre hinweg ist es Jean Pierre Rehm und seinem Team gelungen, hier einen Schauplatz neuer und andersartiger Ästhetiken zu etablieren, das Fachpublikum wie lokale Filmenthusiasten (und zu Filmenthusiasten Gewordenen) gleichermassen lockt. Feine und sublime, aber auch schräge und disharmonische Töne sind hier gern gesehen. Hier wird nicht Mainstream Cinema präsentiert, keine übliches Storykinos, sondern formbewusste Werke, die Transformations- und Verfremdungsarbeit leisten, schlicht, Filme, die einen fremden Blick auf die eigene Kultur werfen.

Einer der diesjährigen viel beachteten Filme ist Pierre Cretons “Va, Toto”. Sein Leitfaden ist das skurrile Zusammenleben einer älteren Dame mit einem hübschen jungen Wildschwein, das allerdings bald an Grösse und Volumen gewinnt. Der drollige Lebenspartner wird mit der gleichen Zärtlichkeit behandelt, die ansonsten nur akzeptierten Haustieren wie Katzen und Hunden zu eigen wird. Dieser kleine abweichende Akt bleibt in der Dorfgemeinschaft nicht unbeachtet. Erste eher verwunderte Kommentare schaukeln sich schnell hoch zur Abwehr und Aggression gegen die Normabweichung. Schliesslich sieht sich der Bürgermeisten, der es als Privatmann vorgezogen hätte, die drollige Seite der Situation zu würdigen, gezwungen einzuschreiten. Das Paar, dem sich mitweilerweile noch eine andere ältere Dame zugesellt hatte, wird zwangsgetrennt.

 

Va Toto

"Va Toto", Pierre Creton

Trailer

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Creton bietet ein sensibles Potpourri schlichter Beobachten einfacher Menschen, die ihr Handwerk verstehen und sich gemeinhin zufriedengeben. Er lässt vor unseren Augen eine intakte Gegenwelt zu aktuellen Lebens- und Aktionsstress entstehen. Madeleines Tierliebe wird kontrapunktiert mit Vincent Reise nach Indien, wo er seine Leidenschaft und Faszination für ungezähmte Affen ausleben kann. Creton porträtiert weitere unspektakuläre Ortseinwohner, folgt mit unaufdringlicher Kamera ihren Sorgen und Wünschen. Er umzirkelt einen in sich ruhenden Mikrokosmos der Gelassenheit.

Araby

““Araby”, Alfonso Uchao und João Duman

 

Ein schlichter, unprätentiöser Film, der scheinbar nur eine sehr persönliche Geschichte aus dem Off erzählt, und doch zugleich das Los grösserer Teile der Weltgemeinschaft resümiert, bieten Alfonso Uchao und João Dumans in “Araby” (Arábia) (Brasilien, 2017). Sie berichtet vom Schicksal all derer, die von Kindheit an nichts anderes haben als ihren starken Arm und den Willen früh aufzustehen. In Brasilien lokalisiert, ausgehend von der Region Minas Gerais, folgt der Film dem Leben Cristianos, niedergelegt in seinem Tagebuch, das zufällig gefunden wird, als er bewusstlos im Krankenhaus liegt. Einst folgte er einer Abforderung, zu schreiben über sich, eine Aufgabe, die ihm schwerfiel. Einmal begonnen entfaltet sich die übliche Matrix eines Lebens in Abhängigkeit: während seiner Jugend ohne Perspektive stiehlt er einen Wagen, wird inhaftiert und kann sich nach seiner Entlassung nur davonmachen. Er versucht bei einem Familienangehörigen auf dem Lande Fuss zu fassen und erlebt dort am eigenen Leib, was Ausbeutung ersten Grades auch heute noch bedeutet.

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Selbst der Minimallohn wird nicht gezahlt, mit dem Vorwand mangelnder Verkäufe. Die Arbeiter werden mit einer kleinen Menge der Früchte entschädigt, die sie selbst ernteten. Selbst kleine Farmer müssen ihre Erträge an die grösseren verkaufen, da es ihnen an Fahrzeugen mangelt, ihre Waren selbst zum Markt zu bringen. Rebellierende werden schnell isoliert und haben kein langes Leben. Der übliche Weg führt Cristiano zu anderen niederen Arbeiten, meist in Fabriken, die die Lungen der Arbeiter mit toxischen Staub verpesten. Nur ein Mal flackert eine Liebesgeschichte auf, die aber chancenlos zerschellt wegen eines minimalen Klasseunterschiedes. Die berichtende Off-Simme, zuweilen unterbrochen von Dialogsequenzen, ist ruhig, gefasst, wie bereits entfernt vom eigenen Körper und Schicksal. Sie berichtet von Müdigkeit und zunehmenden körperlichen Schmerzen. “Araby” (Arábia ist ein fiktionaler Film, der bekannte Fakten zu einem Porträt Chancenlosen, permanenten Ungerechtigkeit Ausgesetzten synthetisiert. Er kristallisiert ohne ideologische oder provokante Töne einen ebenso normalen wie unhaltbaren Zustand, subtiler Appell und melancholische Auflehnung gegen den Status Quo.

Die zehn Hausblöcke umfassende Zone Cartucho in Bologna galt als einer der gefährlichsten Terrains weltweit. Messerstechereien, Vergewaltigungen und Schusswaffengebrauch war in dieser Last-Station-Zone fanden täglich ihre Opfer, nicht nur unter Kolumbianern, sondern auch von weit herkommenden Gestrandeten. Das Töten wurde oft zelebriert als Massaker, als Zerstückelung der Opfer mit Dutzenden Messerstichen. Coke, Marihuana, Crack, Pillen, Morphins, Kokain wurden hier in “Crack Houses” verkauft und konsumiert. Getarnte Polizisten fanden oft niemals ihren Weg zurück. Ihr Körper wurde nie gefunden. Sie endeten irgendwo einzementiert.

Die Degradation und Transformation eines vormaligen Armenviertels zu einer gnadenlosen Todeszone vollzog sich ab dem Moment, wo Crack das zuvor konsumierte Marihuana und die Pillen verdrängte. Seitdem stieg die Krimininalitätsrate abrupt an. Dealer gewannen an lokaler Macht und dominierten ihre Terrains. Ein Grenzüberschritt von einer Strassenseite auf die andere konnte schnell den Tod bedeuten.

Cartucho

“Cartucho”, Andrés Cháves Sánchez

 

Andrés Cháves Sánchez illustriert in “Cartucho” das Leben in dieser Vorhölle in seiner paradoxen Vielfalt. Er lässt Zeugen im Off zu Wort kommen und integriert kurze Interviewsequenzen in seinen Film, die bei ihrem Entstehen oft von den Lokalen misstrauisch beobachtet und kommentiert wurden. In diesem Chaos, dessen Bewohner 70% der Mülls Bogotas heranschafften um ihn systematisch zu durchforsteten nach möglichen Nahrungsmitteln und anderen nützlichen Stoffen, fanden ebenso ausgelassene Feste statt, die aus der Ferne wie Todestänze all der Betäubten am Abgrund Lebenden wirken, die nichts mehr zu verlieren oder zu erwarten haben. Auch junge Frauen aus wohlhabenderen Familien kamen hier hin, um sich zu amüsieren. Einige unter ihnen wurden trunken gemacht oder unter Drogen gesetzt.

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So dienten sie als willkommene Opfer gleichfalls drogenabhängige Anwälte und anderer Vertreter ihrer Schicht, die sich mit ihnen über Tage hinweg eingeschlossen und amüsierten. Im Morgenkrauen kamen die Medizinstudenten und kauften die Kadaver für ihre Studien, nach Wunsch mit wenig Messerstichen, oder mit guten Beinen etc.. Etwa 50000 Menschen liessen hier ihr Leben, nicht gezählt die Verschwunden und Begrabenen. Die Uniformierten galten mit als die wildesten Killer der Szene, die sich über hilflose Obdachlose hermachten. Heute ist auf diesem Terrain der “Third Millennium Park” entstanden, in steriler Architektur karg bepflanzt. Einheimische berichten, wie hier immer noch Kälte und beängstigende Stille spürbar ist. Das Terrain wird kaum frequentiert. Cháves zeigt es in seiner neuen Form vor allem zu nächtlichen Stunden. Nur den wenigsten ist nach Jahren der Reinigungsaktion heute noch bewusst, dass dieses Territorium der vielleicht grösste Friedhof Bogotas ist. Hunderte Skelette finden sich noch ungehoben in der Erde.

Intimität und Politik, an diesem Spannungsbogen zerbrachen schon die Kommunen der Studentenrevolte, die mit Familienleben und Paarideologie Schluss machen wollten. Politische Einsichten liessen sich nicht einfach umsetzen in privates Verhalten. Einen neuen Versuch wagt das französisch-japanische Künstlerpaar Judith Cahen und Masayasu Eguchi. Hier ist sie die treibende Kraft, die einen gemeinsamen Film will, eine künstliche Kreation als gemeinsames “Kind”. Ihre Leitfrage ist die nach einer möglichen Zukunft angesichts der nuklearen Bedrohung, besonders auch in Bezug auf die zivile Nutzung und die ungelösste Frage der Beseitigung radioaktiven Mülls. Man wird in Frankreich, den an Atomreaktoren am dichtesten bestückten Land weltweit, lange suchen müssen, um das Konfliktfeld überhaupt thematisiert zu finden. Die Tabuisierung greift offensichtlich weit hinein in die “freien” Künste. Eguschi drehte 2012 einen Dokumentarfilm zur Kontaminierung in Fukushima. Seine Lebenspartnerin Judith Cahen stellt sich die Frage nach den heimtückischen kleinen Dosen, selbst in Frankreich. Sie suchen einen laufenden Reaktor auf, versuchen sich so weit wie möglich dieser abgeschirmten Zone anzunähern, um ihre eigenen Messungen durchzuführen, doch ein wirklicher Zugang zu detaillierten Informationen wie auch zu möglichen Katastrophenschutzplänen bleibt ihnen verwehrt.

“Coeur du conflict – intime et politique” (The Heat of the conflict – intimacy and politics) ist ein Film über einen möglichen Film zum Thema Mutterschaft, Kinderwunsch, Verantwortung, Widerstand und nuklearer Bedrohung. Das Paar kommentiert während des Entstehungsprozesses die bereits entstandenen Sequenzen. Sehr persönliche Details, wie den Tod des Vaters Eguchis und der Persönlichkeitsverlust der Psychoanalytikerin und zumeist abwesenden Mutter Cahens werden mit so harten politischen Fakten konfrontiert, wie die Tatsache, dass Frankreich sich anschickt, MOX zu nutzen, ein hochgiftiges, aus Plutoniumrückständen fabrizierten Öl. Eine kurze Sequenz aus “Hiroshima, mon amour” Alain Resnais fliesst wie beiläufig ein, wie auch die Stimme Margarete Duras im Off, mit ihrer Reflektion zur Schuld des Gebärens. Samuel Beckett Statement, schon besser vor der Geburt aufzugeben, darf nicht fehlen.

 

The Heat of the conflict

"The Heat of the conflict – intimacy and politics", Judith Cahen und Masayasu Eguchi

Trailer

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Der assoziativ gelehrte Film verschweigt Phasen der Zweifel und Ratlosigkeit während seines Entstehungsprozess in Form von Dialogen des Paares nicht. Auch das Thema Mutterschaft wird nicht reduziert auf politische Strickmuster. Zuweilen wirken die Dialoge, besonders die der herangezogenen Jugendlichen, etwas gestellt und naiv förmlich. Intimität und verweigerte Intimität, Politik und Existenzängste treffen hier rüde aufeinander, Kurz, das Filmemacherpaar offeriert einen schwer verdaulichen und kaum einzuordnenden Film, der gerade deshalb in Marseille seinen angemessenen Ort findet, da Kreativität jeder Einordnung hier weit vorgezogen wird. Nach den überwiegend wenig hoffnungsvoll stimmenden Dialogen und Faktenpräsentationen – Japan hat wieder alle Reaktoren aktiviert, in Frankeich wird die Debatte über Nukleartechnologie noch nicht einmal ernsthaft geführt - will der Film nicht in Negativität enden. Eine weite Hügellandschaft, komplett übersäht mit Solarzellen, Symbol einer möglichen Zukunft, bildet seinen Abschluss.

Das Marseiller FID Festival ist das französische Mekka des abweichenden Films. Die zahlreichen angereisten Festivalgäste und das bemerkenswert aktive lokale Publikum geben ihm Recht: Abweichungen sind weit faszinierender als das Bedienen von Standarterwartungen und Ästhetiken rouge

 

 

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28. FESTIVAL INTERNATIONAL DE CINEMA MARSEILLE

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11 - 17 / 07 / 2017

FID

 

 

 
 

 

FID

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