Es gibt Phänomene, von denen wünschte man sich, dass sie sich stets
gleich blieben. Das Kurzfilmfestival Clermont-Ferrand gehört zu
diesen. Über 8 Tage hinweg streifen hier über Hunderttausend Besucher
durch die Stadt, oft mit Notizblock und Stift versehen, um die 31
Wettbewerbsprogramme und die ca. 60 thematischen, nationalen und
Sonderprogramme zu sichten. Eine gewiss unmögliche Aufgabe, die die
Qual der Wahl herauf beschwört. Zwischen den 14 Spielstätten hin und
her pendelnd macht sich schnell ein Kinorausch breit, den die Anwohner
zu einem alle Jahre wiederkehrenden Lebensstil entwickelt haben. Und
da behaupten immer noch einige, der Kurzfilm könne kein Massenpublikum
gewinnen.
"Killing thre Chickens to Scare the Monkeys“", Jens Assurs |
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Wie jedes Jahr wurde die Produktion eines Landes besonders geehrt.
2016 stand Schweden im Mittelpunkt. Eine 6-teilige Programmauswahl bot
die Gelegenheit, so markanter Filme wie Jens Assurs "Killing thre
Chickens to Scare the Monkeys“ wiederzusehen, eine hochstilisierte
Abrechnung mit den absurden Strafstrategien totalitärer Systeme, oder
die unvergleichliche fiktive Performance von sechs Schlagzeugspielern,
die in eine bürgerliche Privatwohnung eindringen und mit höchster
Präzision alle dort vorgefundenen Materialien zum Klingen bringen, um
punktgenau ihre Aktion abzubrechen und zu verschwinden, bevor die
Bewohner von ihren täglichen Spaziergang heimkehren. Der Film ist eine
wunderbare Ode an die poetische Absurdität der Kreation („Music for
one Apartment and Six Drummers“ von Ola Simonssons und Johannes
Stjärne Nilsson). Auch den «Afrikanischen Perspektiven» blieb
Clermont-Ferrand 2016 treu, wenn auch dieses Jahr nur mit zwei
Programmblöcken.
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Auf diesem Kontinent arbeiten Kurzfilmer unter
besonders erschwerten Bedingungen angesichts mangelnder Subventions-
und Fördergelder. Nationale Kollaborationen, nicht zuletzt auch mit
Frankreich, bieten oftmals die einzige Möglichkeit, ihre Projekte zu
realisieren.
Das Hauptaugenmerk in Clermont liegt gewiss jedoch auf den drei
Wettbewerbssektionen, die französische und internationale, sowie die
des (experimentelleren) „Labo“. Einen Film in Clermont starten zu
können verheisst weltweite Aufmerksamkeit. Ab hier reisen die Filme
oft in alle Himmelsrichtungen.
Im Internationalen Wettbewerb fielen einige Werke auf, die in
besonderer Weise die Souveränität der Frauen in den Mittelpunkt
stellen. Allen voran zu erwähnen sind die kurdische Kämpferinnen in Leyda Topaks "Uzak Mi…“ (In der Ferne...). Im Zentrum des in der
Türkei produzierten Filmes stehen kurdische Soldatinnen in Kobanè
(Aleppo), die nicht nur für ihre nationale Unabhängigkeit, sondern
für die Anerkenntnis der Frauen im einem überaus patriarchalischen
Umfeld kämpfen. Selbst in bewaffneten Konflikt verraten diese Frauen
ihre Femininität nicht. Gesang und Tanz gehören zu ihrem Alltag.
Einige Szenen wirken daher nahezu surreal. Die furchtlosen Frauen
zelebrieren das Leben aufs Eindringlichste. Sofia Qiurós Ubeda zeigt
in "Entre la terre“ (Geh in die Erde) (Argentinien, Chile, Costa Rica)
in intensiven, langsamen Bewegungen die vorsichtige Annährung einer
älteren Frau, die bewusst beginnt, vom Leben Abschied zu nehmen, an
eine junge Aussenseiterin, die wiederum sich intuitiv einfühlt, die
ältere bei ihren letzten Schritten zu begleiten. Im thailändischen
Film "Ferris Wheels“ (Riesenrad) ist es eine Mutter, die sich mit
ihrem jungen Sohn unter Lebensgefahr auf den Emigrationstrip von
Myanmar nach Thailand begibt. Phuttiphong Aroonpheng zeigt die noch
junge Frau in diversen Krisensituationen um ihren Sohn kämpfen. Sein
realitätsnaher Film nimmt am Ende eine durchaus überraschende Wende
und verdichtet sich zu einer poetischen Metapher der Menschlichkeit.
Auch in "Fata Morgana“ der Regisseurin Amelie Wen ist es eine Mutter,
die für ihre in der Ferne gestorbene Tochter die letzten Rituale
verrichtet, deren symbolische Kraft sich ihrem Ehemann entziehen. Sie
reist von China in die Vereinigten Staaten. Dezent lässt die
chinesisch-us-amerikanische Koproduktion die immer noch fortwirkende
Vorurteile der Minderwertigkeit der Töchter gegenüber erhofften Söhnen
anklingen. Doch auch dieser Film endet in einer sensiblen Geste der
Annäherung und Zärtlichkeit zwischen den Eheleuten.
Auch an eindringlichen Männergestalten mangelt es im internationalen
Wettbewerb nicht. In dem aus Madagaskar kommende Film "Die Strasse
gehört mir“ (Anay ny Lalana) schildert die Regisseurin Nantenaina
Fifalana den Alltag eines verarmten alten Mannes, der voller Spiel-
und Lebenslust immer noch seine Arbeit als Wasserträger nachgeht, um
sich ein Handgeld zu verdienen. Die Kamera folgt ihm durch die engen
Gassen. So hart die Arbeit scheint, sie ist seine Lebensfreude. Auch
im argentinischen Film "La Indeferencia del vento“ (Die Indifferenz
des Windes) von Ruben Guzman steht ein alter Mann im Zentrum. Don
Roberto Yañez (1929-2014) lebt allein auf sich gestellt in der
Steppenlandschaft Patagoniens sein schlichtes, hartes Leben führt. Die
Fragilität und Unscheinbarkeit des menschlichen Lebens angesichts der
überwältigenden Indifferenz der Natur wird in meditativen und
poetischen Bildern spürbar. Aus Aserbaidschan kommt der bemerkenswert
sozialkritische Film "The Light Side“. Khayyam Abdoullayev und
Elmaddin Aliyev schildern den Alltag einer Familie, deren Vater sich
als Tagelöhner auf dem benachbarten Ölbohrfeld durchschlägt. Seine
Arbeit gibt ihm noch nicht einmal die Möglichkeit, genügend Öl genug
im Hause haben, um seinen Kindern das nötige Licht für ihre
abendlichen Schularbeiten bieten zu können. Er findet einen illegalen
Weg und riskiert seine Inhaftierung. Sozialkritisch angelegt ist
ebenfalls Carlos Piñeros aus Bolivien kommender Film "Amazonas“. Hier
findet sich ein aus den Anden nach Brasilien geflohener Emigrant nicht
nur seiner Papier beraubt, sondern in eine ausweglose Situation
gepresst, die ihn zwingt, an einem illegalen Geldverkehr zu
partizipieren. Er findet in seiner Verzweiflung zu einer ganz eigenen
Form des Widerstandes.
"Symbolic Threats", Lutz Henke, Mischa Leinkauf , Matthias Wermes |
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Eine Reihe beachtlicher Filme hatte die Labo-Sektion des Festivals
dieses Jahr zu bieten, Die Sektion öffnet sich vor allem ästhetisch
gewagten, experimentellen Arbeiten. Glücklicherweise folgt
Clermont-Ferrand nicht der destruktiven Strategie der
Premieren-Fetischisierung, die bei genauerem Hinsehen nichts anderes
ist als die Applikation machtakkumulierender Strategien im
künstlerischen Bereich. Die Opfer sind die Kurzfilme selbst. Die
eingespielten Mechanismen des Hinhaltens und Ausschliessens seitens
der Megafestivals erschweren artifiziell die weitgefächerte
Sichtbarkeit der Filme.
So konnte der bereits auf der Berlinale präsentierten, eine
unglaubliche Performanz dokumentierende Film "Symbolic Threats", der
deutschen Filmemacher Lutz Henke, Mischa Leinkauf und Matthias Wermes auch in Clermont gezeigt werden. In einer riskanten, kaum
nachzuvollziehenden Nachtaktion werden die beiden auf der streng
bewachten Brooklyn-Bridge angebrachten US-Flaggen gegen schlicht
weissfarbene ausgetauscht.
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Tags darauf stehen die nationalen und
internationalen Medien Kopf, Sicherheitsspezialisten aller Art werden
zur Aufklärung herangezogen, doch das Ereignis bleibt ein Enigma,
zumindest so lange, bis die Aktionisten das Land verlassen konnten.
Die Hypokrisie der offiziellen Lobhudeleien auf die Freiheit der Kunst
wird hier auf den Punkt gebracht. Der Kunstakt wie schlicht als
Verbrechen interpretiert und mit hohen Haftstrafen geahndet. Die USA
schraubt sich in kürzester Zeit zu einer umfassenden
Sicherheitshysterie hoch. Zweifellos ist "Symbolic Threats“ einer der
stärksten Kurz-Dokumentarfilme des Jahres.
Eine andere mit harter Realität jonglierende Performance kommt aus
dem verarmten südafrikanischen Staat Lesotho. In der
deutsch-afrikanische Koproduktion "Behemoth - or the Game of God"
Lemohang Jeremiah Moseses zieht ein schwarzer Priester einen Sarg über
weite Strecken hinter sich her. Er provoziert seine Landsleute mit der
Behauptung, dass in diesem Sarg ihr Gott begraben liege. Als die
Spannungen zunehmen öffnet er den Totenschrein und Geldscheine werden
sichtbar, über die die gierige Masse herfällt, um gleich darauf den
Priester wegen Blasphemie zu verfolgen. Der Mann entkommt nur knapp.
Performative, exotisch wirkende Todesrituale stehen im Zentrum des
vietnamesischen Films "The Living Need Light The Dead Need Music" der
Propeller Group. Dieser bereits in Rotterdam gezeigte Film dokumentiert die
bezaubernd bizarren Formen enthusiastischer Todesriten, in denen Tanz
und Musik einen zentralen Raum einnehmen.
Eine fiktional Performance bietet das aus Grossbritannien kommende
Werk "H Positive". In Glenn Patons Achtminüter stellt der Protagonist
Mark seine technisch ausgefeilte und überaus aufwendige Version eines
nicht nur schmerzlosen, sondern lustvoll erlebten Selbstmordes vor:
eine irrsinnig beschleunigende Euthanasie-Achterbahn, deren Benutzung
einen sicheren, euphorisch erlebten Gehirntod durch zerebrale Hypoxie
garantiert.
Einen beissend satirischen Kommentar zu Nordkorea Kultpolitik schafft
der aus Rumänien kommende, in Frankreich lebende Mihai Grecu in "The
Reflection of
Power". Er lässt die allesamt der Inszenierung des Führerkultes
dienenden, pathetischen Staatsmonumente und artifiziellen Zeremonien
samt ihrer Architektur systematisch im Hochwasser versinken. Die Opfer
spielen ihre Rollen wie Marionetten weiter. Individuelle Reaktionen
sind hier nicht vorgesehen. Was bleibt ist eine menschenlose
Ruinenlandschaft.
Natürlich darf auch der experimentelle Kurzfilm "The Exquisite
Corpus" Peter Tscherkasskys in dieser gut sortierten Labo-Sektion
nicht fehlen, der es bereits in die Kurzfilmauswahl der Quinzaine in
Cannes geschafft
hatte, ein Privileg, das experimentelleren Filmen wirklich nicht alle
Tage gelingt.
Der Österreicher offeriert hier mit dynamisch montierten
Foodagematerial eine vibrierend erotisches Werk, situiert in einer südlich
idyllischen Küstenlandschaft. Er setzt der freien Sexualität ein erfrischendes
Zeichen in Zeiten pornografischer Tristesse. Die sensuellen Rhythmen
des Filmes kristallisieren sich zur spürbaren Form.
Sinnliche Spürbarkeit vermittelt auch der aus Indien kommende Film
"Kamakshi" Satindar Singh Bedis. Schatzplatz ist hier ein von grosser
Wassernot gezeichneter, dürrer Landstrich. Mechanische Verrichtungen,
die das Überleben sichern sollen, vollziehen sich in suggestiver
Stärke. Sie wirken wie rituelle Handlungen, die allegorisch an eine
zeitlose Dimension gemahnen. Im Mittelpunkt dieses eindringlichen, in
scharfen Scharz-Weiss-Kontrasten gefertigtes Werkes steht eine alte
Frau, die eine mystische Beziehung zu dem sie umgebenden Kosmos zu
haben scheint.
William Laboury brachte mit "Hatura" ein Werk nach Clermont, dass die
von Ridley Scoot in "Blade Runner" und Stanley Kubricks in "2001"
entwickelten Themenfelder aufs Neue entfaltet. Der französische Film
setzt eine junge, in eine Art Trance versetzte Frau in Szene, deren
Bewusstsein mit einer Vielzahl von Naturbildern, Architekturen,
Landschaften, Kompositionen und historischen Wissenskomplexen, kurz
mit sinnlichen und intellektuellen Modulen aller Art, angefüllt wird.
Ihr tristes Schicksal, so wird bald klar, ist es, als organischer
Speicher zu dienen, in dem das Beste, das die Erde zu bieten hat,
eingelagert wird. Zu diesem Programm gehört, dass sie nicht erwachen
wird. Der Film lässt bewusst offen, ob es sich hier um einen
künstlichen oder natürlichen Körper handelt. Die Situation beginnt
ausser Kontrolle zu geraten, als die junge Frau in eine
Identitätskrise angesichts verlorener Erinnerungsblöcke gerät. Sie
verspürt Lust, zu erwachen und das einfache, konkrete Leben zu suchen
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