Berlins Goldener Bär geht 2016 an einen Dokumentarfilm. Wie bereits in
Venedig mit «Sacro GRA», überzeugte Gianfranco Rosi (*1964, Asmara,
Eritrea) die internationale Jury, mit einem Werk, dass gänzlich auf
Effekte, Stars und phantastische Storys verzichtet. Es zieht ein
Publikum in den Bann, das angesichts hybrider heutiger
Realitätsfiktionen nach schlichter Wirklichkeit sucht.
Leider wird Auch ein Festivalgewinner von der Grössenortnung der
Berlinale keine Trendwende einleiten können, denn die stets gleiche,
lediglich immer stärker kontrollierten Muster der Fiktionsfabrikation
werden sich kaum abschwächen oder in Frage stellen lassen. Emotional
vermeintlich publikumswirksame Effekte, auf der Basis gefilterter
Drehbücher, schaffen die bekannten lauwarmen, politisch korrekten
«Spielfilme», die keine kulturellen Überraschungen bieten oder auch
nur bieten wollen. Entweder setzt die Filmindustrie auf die ewige
Wiederkehr einer überschaubaren Schar von Stars, die tendenziell immer
mehr Einfluss auf den Film selbst nehmen können, oder auf emotionale
Stimulation, vorwiegend auf dem Hintergrund aktueller oder
historischer Konfliktfelder, über die selbst kaum Neues oder gar
Verstörendes beigetragen wird. Konflikte, Kriege, Katastrophen sind
die Dekors der immergleichen Beziehungskisten.
Dokumentarfilme können dem entraten. Sie müssen neugierig und offen
bleiben, genau beobachten, Überraschendes und Differenzierendes
aufdecken. Rosis « Fuocoammare » ist ein solch peripherischer Film, in
dessen Zentrum ein schelmischer, doch auch ganz gewöhnlicher
Zwölfjähriger namens Samuel steht. Die kleinen Abenteuer seines
Alltags bieten gleichsam das Kontrastprogramm zur ständigen
Konfrontation mit dem Tod, dem die Inselbewohner in Form der dauernd
angeschwemmten oder aufgefischten Kadaver ausgesetzt sind.
"Fuocoammare", Gianfranco Rosi |
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Rosi zeigt die Gleichzeitigkeit einerseits des Versagens der
Weltpolitik angesichts des ungebremsten Todesflusses, andererseits der
Kraft, eine weder gewalttätige, noch revanchistische humane Normalität
zu erhalten. Die italienische Insel Lampedusa schreibt Rekordzahlen
der Emigrationskatastrophe in Europa : neben den bisherigen 15000
Toten verzeichnet die Statistik bisher 400000 Flüchtlige.Rosi splittert die Tragödie in fragmentierte Einzelszenen und folgt
zugleich mit Aufmerksamkeit und Geduld Samuel bei seinem
Augenarztbesuch, nächtlichen Vogeljagden und Gesprächen mit Freunden
oder Verwandten.
Wie schon in «Sacro GRA» beweist Rosi sein Talent, durch seine
Dokumentation einfachen Zeitgenossen, hier den an der Peripherie Roms
Lebenden, die Würde und die unscheinbaren Intensitäten ihrer
schlichten Existenz durch teilnehmende Beobachtung zu bestätigen und
zugleich einem breiten Publikum zu vermitteln. Was auf der Oberfläche
so einfach erscheint, erfordert in Wirklichkeit einen sensiblen
Einblick in die Eigentümlichkeiten und poetischen Schattenwürfe der
scheinbar gewöhnlichen Zeitgenossen.
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Doch bleibt festzuhalten, dass Rosi in den Vorjahren bereits drei
Dokumentarfilme schuf, die allesamt deutlich eindringlicher erscheinen
als seine nunmehr weltweit wahrgenommenen preisgekrönten Filme.
In Boatsman (1993) liefert er ein sinnlich und intellektuell überaus
verflochtenes Tableau einer harten Konfrontation mit hinduistischen
Todesritualen am indisches Ganges. In “Below Sea Level” (2008) teilt
er über 5 Jahre hinweg das Leben wirklichen Aussenseiter in den
Vereinigten Staaten, jener Outdrops, die aus unterschiedlichsten
Gründen sich mit ihren Caravans in die Steppe eines weitflächigen
Gebietes zurückgezogen haben, das 100 Meter unter Meereshöhe irgendwo
im weiteren Umfeld Los Angeles gelegen ist. Dort gibt es weder
Wasserleitungen, noch Strom oder zivile Versorgungen. An diesem
Nichtort wollen die aus alle Himmelsrichtungen Kommenden ein neues,
selbstbestimmtes Leben beginnen. Doch entstehen auch hier notgedrungen
Formen einer Minimalgesellschaft. Elementare Regeln müssen definiert
und eingehalten werden. Einige dieser Siedler, die zu einer
vorstaatlichen Gesellschaft zurückkehrten, öffnen sich schliesslich
Rosis Fragen und (Kamera-) Blick. So entstehen eine Handvoll überaus
beeindruckender Porträts aussergewöhnlicher Zeitgenossen.
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"Below Sea Level" Gianfranco Rosi
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"El Sicario, Room 164" Gianfranco Rossi |
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Als schlicht unvergleichlich schliesslich kann Rosis Dokumentarfilm
“El Sicario, Room 164” (2010) gelten. Der Filmemacher lässt sich an
der un-mexikanischen Grenze auf ein Treffen mit einem professionellen
Killer ein, der detailfreudig die Organisation und Techniken seines
Handwerks beschreibt. Das Treffen findet statt in einem der Motelräume
(164), die als Folter- und Mordort gedient haben. Rosi beschränkt
seine Kameraperspektive ganz auf die Hände und Zeichnungen, die der
Insider zur Illustration seiner Berichte während der Begegnung
anfertigt. “El Sicario” hat verständlicherweise keinen Abspann. Rosi
wurde dringend abgeraten, je wieder in die Nähe Mexiko zu kommen Ob
der Zeuge, der zu diesem Gespräch sich nur bereit fand, weil er ein
neues Leben beginnen wollte, noch lebt, ist wenig wahrscheinlich
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