Das Motovun Film Festival empfängt seine Gäste in idyllischem Ambiente. Auf einer Hügelspitze gelegen, mit allseitigem Umblick in Wälder und Hügel, bekannt für ihren Trüffelreichtum, bevölkert von Hunderten Angereisten, die neben üblichen Kinoräumen auch allabendlich Zugang zu zwei Open-Air-Projektionsstätten haben, zu schweigen von gleich mehreren täglichen Konzerten, hat sich das Festival zu einem wichtigen internationalen Schauort auch über Kroatien hinaus entwickelt. Humorvoll personalisiert bietet die Eröffnungsschau kleine Video-Porträts der Festivalverantwortlichen auf grosser Leinwand, gemischt mit Snapshots des stets und überall dokumentierten Publikums. Vor vornherein wird klar: hier soll eine familiäre Atmosphäre entstehen, eine Fest der Begegnungen um die emotionelle Kraft des Films herum. Kurzfilme und Features, Dokumentarisches und Fiktives…Motovun ist nach vorsichtigen Anfängen als ein alternatives, nationales, doch von Anfang an widerständiges Festival zu einer repräsentativen Stätte des Weltkinos geworden.
"Listen" Hamy Ramezan |
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Bereits das 25 Filme umfassende Kurzfilmprogramm überzeugt durch Sensibilität für Realprobleme. Entertainment bleibt aussen vor. Besonders hervorzuheben das dänisch-finische Werk Hamy Ramezan "Listen". Hier wird die Fragwürdigkeit sozialer Einrichtungen dechiffriert, die angesichts kultureller Differenzen nur Fehlverhalten produzieren. Eine geschlagene und in ihrer Ehe lebensbedrohte Frau flieht mit ihrem Sohn schutzsuchend in eine Polizeistation in Kopenhagen. Doch ihre Bitte und Erzählung wird von der hinzugezogenen Übersetzerin bewusst verstellt und manipuliert. Intuitiv fühlt die verschleierte Frau das falsche Spiel und begehrt auf. Doch ihre fremdsprachigen Worte werden von den Beamten nur als Unhöfflichkeit und Masslosigkeit interpretiert. In nochmaliger Steigerung der Absurdität verrät ihr eigener, auf dem Korridor wartender Sohn, sie zur gleichen Zeit an ihren Ehemann und bringt sie auf diese Weise in unausweichliche Lebensgefahr.
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Irgendwo im ländlichen Russland kümmert sich die Mashka, Tochter eines trunksüchtigen Vaters, um ihre jüngeren Brüder. Ihr Überlebenskampf, der auch kleine Diebstähle zur täglichen Notwendigkeit macht, nimmt ein jähes Ende, als die Jugendliche durch einen Flaschenwurf aus einem vorbeirauschenden Zug tödlich am Kopf getroffen wird. Nun ist es an ihrem Bruder, die Verantwortung für den noch Jüngeren zu übernehmen. Igor Kagramanov zeichnet in "Mashka" ein No-Future Russland ohne jede soziale Solidarität und institutionelle Hilfe. Minderjährige sind engsten Wohnräumen, Alkoholdunst, Feuchte und Kälte ausgesetzt. Der in kalten Farben gedrehte Film fängt die anhaltend latente Aggressivität dieser lokalen Wirklichkeit wirksam ein. Die emotionale Begleitmusik wirkt unnötig tautologisch. Mit einer durchaus humanen Nuance wird der lokale Polizist porträtiert, der mehr Verständnis für die Verwahrlosten aufbringt als die engste Nachbarschaft.
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"Mashka" Igor Kagramanov
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"Jonathan’s Chest“ ist der Titel des überaus origineller französischen Films Christopher Radcliffs, der mit nicht expliziertem Horror spielt. Der vor Jahren verschwundene Sohn einer Kleinfamilie steigt eines Nacht durch das Fenster seines Bruders, um ihn mit der unglaublichen Erzählung über den Grund seines Verschwindens zu konfrontieren. Er lässt ihm die Wahl, mit ihm zu fliehen oder zu riskieren, das von ihm einst erlittene Trauma selbst durchleben zu müssen. Dem jungen Mann bleibt die Wahl, aufgrund der nur kurzen nächtlichen Begegnung, die Tags darauf bereits unwirklich wirkt, sein Leben radikal zu ändern oder die nun stark unterhöhlte Familenidylle weiter zu leben.
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"Jonathan’s Chest" Christopher Radcliff
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"Magical Girl" Carlos Vermut |
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Kubarska schafft einen Film, der die Herausforderung des endlichen Lebens als Schlüsselfigur einer möglichen Beantwortung der Sinnfrage kenntlich werden lässt und in Szene setzt. Ein Reise in die Kälte und zurück, ein Dokument unheimlich und tröstlich zugleich.Der FIPRESCI-Preis ging an Carlos Vermuts "Magical Girl" (La niña de fuego). Der Film inszeniert eine alptraumhafte Fahrt in den Abgrund versäumter Kommunikation. Nur einen kurzer Augenblick lang hätte sich die Chance eröffnen können, der Aneinanderreihung fataler Missverständnisse ein Ende zu machen, aber der lebenslang von einer jungen Frau in die Irre geführte und nun bereits gealterter Exschullehrer Damian zieht es vor, dem Mann in die Stirn zu schiessen, der ihn über sein Lebensfehler hätte aufklären können. Diese mit lapidar beiläufiger Gewalt ins Bild gesetzte Szene fast am Ende des 127 Minuten langen Werkes ist die komisch-tragische Abschlussfigur einer Kette jeweils scharf konturierter, dialogzentrierter Szenen, die sich zu einem hermetischen Tableau versäumter Kommunikationen verdichten.
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Carlos Vermut knüpft in "Magical Girl" an die düstere Personendramaturgie seines Erstlingswerkes "Diamond Flash" (2011) an, das in Spanien grosse Aufmerksamkeit erregte. Statische Szenen und Konzentration auf Indivudualpsychologie kennzeichnen seine Handschrift, wie ebenso der spürbar triste Hintergrund eines durch ökonomische Krisen ergrauten Spaniens, das selbst die geschlossenen Innendekors mit dunkelfarbiger Freudlosigkeit durchtränkt. Nur wenige musikalische Sequenzen klingen an, die nichts Gutes verheissenden klagenden Flamenkotöne Manolo Caracol, Bach und Satie.
Vermuts Kosmos ist charakterisiert durch Dialoge und das Spiel mit der Imagination, die sich Auslassungen in der Narration zu Nutze macht. Ein Reihe von Ereignissen bleiben dem Zuschauer unzugänglich, wie ebenso die Protagonisten auf triste Weise einem Zufallspiel ausgeliefert sind, aus Mangel an entscheidenden Informationen.
Der Film beginnt mit der verbalen Aggression der selbstbewussten Schülerin Barbara. Das Opfer, ihr Lehrer, verlangt die schriftliche Notiz ihrer Anfeindung zu sehen, doch die junge Frau hat diese auf magische Weise bereits verschwinden lassen. Jahre später treffen wir Barbara wieder, diesmal als von ihrem Ehemann abhängige, verängstigte Frau, infantalisiert und mit sadistischer Strenge behandelt. Unklar bleibt, wie es zu diesem Persönlichkeitswandel hat kommen könnte. Unklar bleibt auch, was geschah zwischen ihr und ihrem ehemaligen Lehrer, der für seine Tat lange im Gefängnis einsass. Noch kurz vor seiner Entlassung bittet Damian Haftanstaltsleiterin, dort bleiben zu dürfen, um Barbara nicht wieder zu begegnen. Eine andere Ereignislinie führt zu einem zweiten "Magical Girl", Alicia, eine12jährige an Leukämie erkrankte, die in der Welt japanischer Animationsfiguren ihren Fluchtraum findet. Ihre Identifikationsfigur ist die einen Zauberstab tragenden Phantasiegestalt Yukido, die sich ihre Wirklichkeiten nach Belieben erschafft. Für diese Figur hat der Designer Meiko Saori ein Traumkostüm entworfen, das er auf dem Markt für einen hohen Preis anbietet. Zu hoch für ihren Vater Luis, einem entlassenen schlichten Schullehrer, der seiner todkranke Tochter jeden Wunsch erfüllen will, gleichzeitig es aber versäumt, abzuwarten, bis der von Alice in einer Radiostation gewünschte Song erklingt. Mit diesem Lied wollte sie ihm die wichtige Nachricht vermitteln, um ihre Todkrankheit zu wissen und sich nur eines zu wünschen: seine Nähe. Ein weiterer Akt versäumter Kommunikation.
Der umhergetriebene Luis verkauft dagegen seine geliebten Bücher für ein Handgeld und steht kurz vor einem Juwelierladenraub, um an das notwendige Geld zu kommen. Zufallsbedingt findet er sich kurz darauf in Barbaras luxuriösem Appartement. Selten kam in der Filmgeschichte ein Paar zusammen, dadurch dass eine Frau sich auf einem Balkon stehend über einen Mann erbricht. Die emotional ausgelaugte Barbara verlangt nach Zärtlichkeit. Der hilflose Luis folgt ihrem Begehren, versucht aber nach vollzogenem Akt, sie zu erpressen, glaubend, dass es der offensichtlich Wohlhabenden nicht allzu schwer fallen könne, die geforderte Summe aufzubringen. Selbstredend ahnt er von der totalen Kommunikationslosigkeit in Barbaras Existenz nichts, ebenso wenig von ihrer emotionalen Abhängigkeit von ihrem Gatten Alfredo, der als Psychologe ausser Haus offensichtlich recht erfolgreich ist. Barbara bleibt nur die über eine Freundin vermittelte Prostitution, um die geforderte Summe zu beschaffen.
Noch einmal schraubt sie die Spirale des Nicht-Kommunikation hoch, als Luis wahrnimmt, dass seine Tochter den Zauberstab des Kostüms vermisst, ein essentieller Bestandteil, für den der Designer jedoch noch eine zusätzliche, weit höhere Summe verlangt. Noch einmal erpresst er Barbara, ahnungslos um die Konsequenzen für sie. Nun muss sich Barbara noch weit radikaler einer offensichtlich gut organisierte Geheimgesellschaft ausliefern, deren kultivierter im Rollstuhle sitzender Manager über spanische Instinkte und Stierkampf räsoniert. Sie muss in einen Raum treten, in dem Perversionen keine Grenzen und Tabus mehr gesetzt sind, ein Raum ohne Stop-Zeichen und Entkommen. Was dort geschieht, wird nicht ist Bild gesetzt. Sie verschwindet schlicht hinter einem schweren Vorhang. Hier installiert Vermut glücklicherweise eine weitere Form der Unkommunizierbarkeit.
Der letzte Akt der Nichtkommunikation: mit schweren Verletzungen im Krankenhaus liegend instrumentalisiert Barbara ihren Ex-Lehrer Damian, der ihr, wie bloß angedeutet wird, schon einmal aus der Not half und reichlich dafür bezahlt hatte, Rache zu nehmen an dem schlichten Literaturlehrer Luis, den sie ihm gegenüber als direkte Ursache ihrer Verletzungen darstellt. Der Auftrag wird erfüllt und der Mann erschossen, bevor Luis Damian noch hätte aufklären können, was seine Schuld ist und was nicht. Weitere Opfer reihen sich aneinander, in tragischer Konsequenz zuletzt das erkrankte Mädchen selbst, das sich gerade für ihren Vater das Zauberkostüm mit Zauberstab anlegt hatte, um ihm zu danken.
In dieser hermetischen Zirkulation der Kommunikationslosigkeit trennt Vermut die isolierten szenischen Abläufe zuweilen mit Zwischentiteln wie Welt, Dämon und Fleisch, die weite Assoziationsräume eröffnen, aber keine Deutungen erschliessen. Alle Charaktere sind Opfer ihrer nicht kommunizierten Wirklichkeit, doch Barbara ist zweifellos der ambivalente Angelpunkt der Destruktion. Bereits zu Anfang des Filmes kündigt sie ihren Freunden scherzhaft an, deren Baby aus dem Fenster zu werfen, sie presst ihr Gesicht in einen zersplitternden Spiegel, sie zögert nicht, einen neuen Mörder zu fabrizieren und ein Opfer, das zumindest nicht für ihre autodestruktive Form der Geldbeschaffung verantwortlich ist. Eine Femme fatale wider Willen, angetrieben von mysteriösen Impulsen.
Die französisch-belgische Koproduktion "Wakhan Front" von Clément Cogitores wurde von der Hauptjury gekürt. Ort des Geschehens des in Cannes uraufgeführten Werkes ist das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet, genauer das von abweisenden Bergzügen umgebende Tal Wakham. Im Mittelpunkt steht eine französische Militäreinheit, konfrontiert mit eigensinnigen, ihren Riten folgenden Einwohnern und zuweilen auftretenden Talibantruppen. Im hybriden Zustand einer fragilen Friedens beginnen französische Soldaten auf rätselhafte Weise, selbst aus von innen geschlossenen Räumen zu verschwinden. Die gesammte Militärtechnologie reicht nicht hin, dieses Schwinden zu klären. Hier geschieht Unerklärliches, anders gesagt, der Einbruch einer anderen Wirklichkeit, zu der die Legenden und Mythen der Einheimischen, aber auch die (Alp-)Träume der Soldaten eher einen Pfad eröffnen als Beobachtungs- und Kontrollsysteme. Cogotore kristallisiert eine Metapher des Fremdzustandes, eines Einsatzes auf einem fremden und unzugänglichen Terrains, das sich der westlichen Logik, Technologie und Strategie entzieht. |
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"Wakhan Front" Clément Cogitore
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Er schafft eine surrealistische Fabel mit nachhaltigem Realitätsgehalt, erinnere man sich an die politisch-sozialen weit reichenden Fehler der westlichen, sowie auch der vormalig sowjetischen Okkupationsmilitärs, die aus völliger Unkenntnis um die lokale Wirklichkeit ein Desaster nach dem anderen schufen. Das Fazit aus Cogotores Film ist schlicht: eine andere Kultur lässt sich militärisch nicht kontrollieren. Das Schwinden der Soldaten hin zu einem unbekannten Raum kann auch als Hoffnung auf das Aussetzen einer macho-militärischen Selbstgewissheit gelesen werden. Cogotore jedenfalls dechiffriert mit eindringlichen psychologischen Porträts und Dialogen die langsame Dekomposition der westlichen Dominanz und Souveränitätsanmassung. Die aufkommenden Ängste, Zweifel und Todeskonfrontationen werfen neue Fragen auf, die im Militärvokabularium nicht vorgesehen sind. Doch hier Antworten zu finden scheint bedeutsamer als dem Wahn von Kontrolle und Dominanz weiter zu folgen.
"Virgin montains" Dagur Karl |
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Ein weiterer Höhepunkt in Modovuns Festival war die Präsentation von "Virgin Montains" des Isländers Dagur Kárl. In dessen Zentrum steht Fúsi, eine Figur, die Dostojewskis "Idiot" in Erinnerung ruft. Fúsi ist ein scheuer, überaus korpulenten, durch und durch gutherzigen Mann, der es allen recht zu machen sucht. Er lebt zurückgezogen mit seiner Mutter. Liebeserfahrungen sind Fremdland für ihn. Ein Zufall bringt ihn mit einer Frau in Kontakt. Zum ersten Mal beginnt er zu werben, sich auf ihre Spuren zu begeben und wird abgewiesen. Als sie kurz darauf in eine schwere Depression fällt, kümmert er sich wochenlang liebevoll um sie. Mit Erfolg, sie überwindet ihre Krise nicht nur, sondern will nun mit ihm zusammen leben. Das Unvorstellbare und Unerhoffte scheint plötzlich erreichbar für Fúsi. Doch als er mit seinen Umzugskoffern vor der Tür steht, hat sie es sich anders überlegt... Dagur Kárl beeindruckt durch seine emotional stimmige Darstellung eines ausgesetzten Aussenseiters, der trotz allen denkbaren, zuweilen auch aggressiven Anfeindungen nicht aus der Bahn zu werfen ist.
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Sein innere Gleichmut und seine ständige Hilfsbereitschaft sind Kräfte, die vulgäre Angreifer schliesslich in Kumpels transformieren können. Doch die grosse Einsamkeit bleibt. Die verschneite, unwirtliche und oft von Stürmen heimgesuchte Atmosphäre Islands ist ein idealer Hintergrund, um die Sehnsucht nach einem Schutzraum, nach einem Ort, in dem Mitmenschlichkeit möglich sein könnte, allzeit spürbar zu machen. Gunnar Jónsson wurde für die Darstellung Fúsis von der Jury speziell gewürdigt, die er selbst am Ort entgegen nehmen konnte. Er wird allen Teilnehmern lange in Erinnerung bleiben |