Das Zweifellos ein Höhepunkt im nicht nur deutschen Jahresprogramm des Animation- und Dokumentarfilms lädt das DOK Festival Leipzigs über eine Woche hinweg nicht nur zur Werkschau, sondern auch zu permanenten Debatten über Filme der täglichen Programmauswahl. Leipzig ist ein Festival, das die weltweiten Schlüsselthemen genauso im Auge behält wie die immer noch spürbaren Konsequenzen der schmerzhaften Geschichte eines geteilten Deutschlandes.
"Bracia" Wojciech Staron |
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Im Internationalen Wettbewerbs des Dokumentarfilms berührte ein fast
intimes Porträt, was auf den ersten Blick fern der grossen
Konfliktzonen des Planeten sein Thema findet. Die mittlerweile
90jährigen “BRÜDER” (Bracia), Miecylaw und Alfons, finden nach einer
nahezu lebenslangen Getriebenheit durch unterschiedlichste Länder,
Kasachstan und Sibirien eingeschlossen, in ihre Heimat nach Polen
zurück, wo sie allein ein Landhaus bewohnen. Ihr Zusammenleben wird
vom polnischen Regisseur Wojciech Staron in all seinen Nuancen
zwischen kleinen Sticheleien, Aufmunterungen, täglichen
Hilfestellungen aber auch Momenten der Trauer und des Zweifel
eingefangen. Ihre Geschichte wird lediglich angedeutet mit wenigen
verblassten Fotos und Schmalfilmfragmenten. Im Zentrum steht jedoch
die Gegenwart dieses beeindruckenden, viele Härtephasen durchquert
habenden Lebens. Fast am Ende seines Weges findet Alfons als Maler
mythischer Naturbilder internationale Anerkennung in Form einer
offiziellen Ausstellung in Brüssel, in Anwesenheit diverser
Botschafter.
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Trailer |
Sharon integriert Alfons Malerei visuell überzeugend in das Panorama
ihres täglichen Landlebens. Unmittelbar nach ihrer Reise wird das
Brüderpaar mit der grössten denkbaren Katastrophe konfrontiert: ihr
Landhaus sowie alle darin untergebrachten Kunstwerke sind abgebrannt.
Und wieder haben die Brüder die Kraft, von vorne zu beginnen. Die
Interferenz zwischen ihrer aussergewöhnlichen Lebensgemeinschaft dem
sensiblen, intime Details erfassenden Blicks Sharons schafft ein Werk
über Lebenskraft und Würde, dass angesichts der aktuellen massenhaften
Emigrationsschicksale umso bedeutsamer erscheint.
Wie kann ma einen Dokumentarfilm über soziale Wirklichkeit in Nordkorea drehen? Jedenfalls nicht, indem man um Erlaubnis anfragt. Doch der in Russland lebende Filmemacher ukrainisch jüdischer Herkunft Vitaly Mansky (*1963) setzt in “UNDER THE SUN” (V luchakh solnca) auf eine ebenso einfache wie wirkungsvoller Strategie. Er folgt den lokalen (Propaganda-) Medien bei ihrer Arbeit, ihm bei seiner Arbeit zu “helfen”. Er öffnet den Raum zwischen dem, was sich vor und hinter der Kamera ereignet. Er dokumentiert die Anweisungen, wie seine Helfer die koreanische Wirklichkeit erscheinen lassen wollen und kontrastiert diese Sets mit kleinen, unbeobachteten Gesten hinter der offiziellen Kamera, die oftmals von Erschöpfung und Unsicherheit geprägt sind. Er beobachtet das Ungemach, die Angst, etwas Falsches, oder das Richtige nicht richtig genug zu sagen, die hinter der Oberfläche der fröhlich selbstbewussten Lebenshaltung spürbar ist.
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"Under the sun" Vitaly Mansky
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Mit dieser dokumentarischen Seitenblick-Perspektive gelingt ihm eindrucksvoller Porträt einer Bevölkerung unter Kontrolle und Selbstkontrolle, die sich ihre eigenen Ängste und Wünsche nicht einmal selbst einzugestehen, geschweige denn zu kommunizieren vermag. Den öffentlichen Raum dokumentiert Mansch kommentarlos, neutral und distanziert. Er zeigt einen gänzlich durchgeplanten Alltag, der mit Massengymnastik am frühen Morgen beginnt zu Lautsprecheranweisungen. Diese Beschallung, geprägt vorwiegend von Propagadasongs und Hymnen an die Führung, sprich Kim Jong-un, wir den ganzen Tag über nicht abreissen. Danksagungen allüberall, jeder Erfolg, selbst der des Abschusses von US-Militärmaschinen im letzten Krieg, wird personalisiert und als Produkt der direkten Intervention der Führung dargestellt. Manskys Drehzeit war auf eine Tag beschränkt, doch sie reicht völlig aus, eine auf Stillstand gestellte Gesellschaft permanenter Selbstdarstellung hinreichend abzulichten. Seine Kamera erfasst hinter ihrer Zwangsdressur Menschen, die auf einen anderen nächsten Tag warten.
"Lampedusa im Winter" Jacob Brossmanns |
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Einfachen Menschen stehen auch im Mittelpunkt von Jacob Brossmanns
(*1986) Dokumentation "Lampedusa im Winter". Die Einwohner dieses wie
kaum ein anderer von Emigrationswellen heimgesuchten Ortes müssen ihre
Existenzen neu ordnen, gleichzeitig konfrontiert mit tausendfachen
menschlichen Tragödien und dem Verlust ihres einstigen, schlichten
Lebens. Brossmann fokussiert seine Kamera auf ihre Gefühle, Reaktionen
und Reflexionen. Er folgt ihnen zu politische Versammlungen, in denen
nicht Zweifel an notwendigen Hilfestellungen artikuliert werden,
sondern eine oft an Verzweiflung und Wut reichende Enttäuschung über
mangelnde öffentliche Mittel, sowohl seitens der italienischen
Regierung wie der europäischen Gemeinschaft. Selbst die einzige Fähre
zum Festland wird nach ihrem Ausfall nicht instand gesetzt oder durch
eine neue ersetzt, sondern lediglich gegen eine weniger
leistungsfähige ausgetauscht. Die lokalen Fischer treten in Streik,
die auf der Insel abgeschirmten Flüchtlinge machen auf dem Kirchplatz
auf sich aufmerksam. Opfer sind sie alle. Brossmann nimmt sich Zeit,
den unterschiedlichen Aktivisten zu folgen. Auf dem Hintergrund eines
umfassendes soziales Panoramas widmet er sich Einzelschicksalen, zeigt
Menschen, die individuell nach Lösungen suchen.
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Er resümiert den harten Alltag Lampedusas abseits politischer
Schlagzeilen und touristischer Sensationslust, indem er Menschen auf
beiden Seiten zeigt, Einwohner wie Emigranten, die es zu vermeiden
wissen, sich als Kontrahenten zu sehen. Genau dies macht Brossmanns
Film zu einem wichtigen Zeitdokument, das gerade angesichts der
aktuellen zunehmenden Fremdenfeindlichkeit als Diskussionsgrundlage an
jeder Schule wünschenswert erscheint.
Im Wettbewerbsprogramm des kurzen Animations- und Dokumentarfilms hervorzuheben ist zweifellos Laura Marie Waynes “Most of Us Don’t Live There”. Die kanadische Musikerin und Filmemacherin öffnet den Blick in den Bereich ungewöhnlicher Wahrnehmungen und Intensitätszustände, die über das Spektrum normierter Wahrnehmungen weit hinaus gehen. Aus Selbsterfahrung bezeugt Wayne Bewusstseinszustände, beginnend mit extremer Empathie bis hin zu einer völligen, ihr Selbstbewusstsein absorbierenden Symbiose mit der sie umgebenden Natur. Sie verliert die Kontrolle über ihre Gefühle und zugleich ihre Handlungsfähigkeit. Neun Jahre lang hatte die Medizin nur eine Antwort auf dieses Dilemma, Antidepressiva, die lediglich zu einer anderen Form des Ich-Verlustes, zu innerer Abstumpfung und kompletter Desensibilisierung führen. Dann riskierte Wayne es, sich aus dieser Dunstglocke Schritt für Schritt zu befreien und zu einer Autonomie und Selbstfindung zurück zu kehren. Ihr hoch sensibler Film lässt Super-8 Bilder aus ihren Kindertagen, vor dem Auftreten ihrer Hypersensibilität anklingen, Bilder einer normalen Kindheit, die ihr nun als Referenz eines möglichen kommunikativen Lebens diesen. Den Konflikt zwischen Bewusstsein und Selbstverlust umschreibt sie im Off mit kristallin vibrierender Stimme. Sie schafft einen aussergewöhnlichen Film, der assoziative Naturbilder als Darstellung von Bewusstseinssymbiosen nutzt. Ein wunderbarer Film, der einen Schritt in ein offenes, nicht ungefährliches Terrain tut.
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"Most of Us Don’t Live There" Laura Marie Wayne
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"Procedere" Delia Schiltknecht |
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Mit vergleichbarer Intensität schildert auch “Procedere:” der
Schweizerin Delia Schiltknecht (*1989) einen psychischen
Extremzustand. Sie gibt der Stimme einer an manischer Depression und
Angstzuständen leidenden jungen Frau Raum, deren geflüstertes
Tagebuch aus dem Off erklingt. Wasseroberflächen, vorbei rauschende
Baumstämme sowie eine kleine Animationsfigur, die hilflos von rechts
nach links und umgekehrt läuft, schaffen die Atmosphäre extremer
Ausgesetztheit und Unruhe. Auch “Procedere:” zitiert ein scheinbar
überlebenswichtiges Medikament: das Antidepressiva Zoloft. Die
Patientin kämpft gegen ihre eigenen Gedanken und inneren Bilder an,
die sie gegen ihren Willen überfallen: “Negative Bilder dürfen nicht
gedacht werden”. Unscharfe Archivbilder und flackerndes dekomponiertes
analoges Bildmaterial katalysieren ihren Zustand hilfloser Fragilität.
Zahlen, Sonnenlicht, Baumblätter… alles kann eine mögliche Gefahr
sein. Mit Zwangsritualen sucht sich die Patientin zu wehren gegen die
mentalen Einbrüche. Fragmente von Naturanrichten wirken hier, im
Unterschied zu Laura Marie Waynes Film, eher bedrohlich, keinesfalls
als Einladung zu einer möglichen Symbiose. Schiltknecht schafft einen
schmerzlich intensiven Einblick in die ausweglos scheinende innere
Hölle eines Bewusstseinszustandes, der lediglich nach “guten Bildern”
suchen kann. Hier endet der Film.
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