Ein Charakteristikum des Rotterdamer Filmfestivals ist es, ein Festival der Entdeckungen zu sein, das Erst- oder Zweitfilmen eine Chance gibt. Gleichzeitig ist es ein beeindruckendes Subventionsunternehmen, das mit seinem Hubert Bals Fund eine Fülle von Filmen in die Realisation schickt, die – kaum überraschend – dann ein Jahr später wieder in Rotterdams Festival Eingang finden und derart Aufwertung erfahren. Für die Filmindustrie wird hier viel getan. Fast tägliche Stand-In-Partys, organisierte grossflächig angelegte Mittagessen (für geladene Gäste) und nicht zu vergessen die permanenten Pitching-Treffen, die das 11-tägige Festival organisiert, eine Gelegenheit für die Filmemacher, potenziellen Geldgebern ihre Projekte vorzustellen. Nicht zu vergessen bietet Rotterdam einen hervorragend organisierte Video-Sichtungsraum, der mit über 60 Sichtungsplätzen plus einem Online-Zugang, auch grossem Andrang nahe mühelos standhält.
Das Festival ist an drei Schauplätzen zentriert. Zunächst das “De-Doelen”-Haus mit den benachbarten Kinokomplexen “Pathé” und “Schouwburg”, dann der gut 5 km entfernte, mit einem Shuttle-Bus zu erreichende, vorwiegend Kurzfilmprogramme zeigende, architektonisch kühle und funktionelle “LanterenVenster”-Kinokomplex und schliesslich das “Worms”, in dem abendliche Performances, Konzerte und experimentelle Filmprogramme stattfinden.
Ein relativ kleines, lediglich mit elf Feature-Filmen bestücktes Wettbewerbsprogramm und sechs Kurzfilmsektionen streiten um den Tiger Award. Die Wettbewerbsprogramme werden ergänzt durch die “Bright Future”-Sektion, in der ausgewählte Filme aus aller Welt ohne Premierestatus laufen. In der “Spectrum Premiers” wird Talenten mit ihren vorwiegend Erstarbeiten meist in Premiereform Raum gegeben. Es folgt ein überaus umfangreiches Kurzfilmprogramm, betitelt “As long as it takes”, das ebenfalls viele neue Namen ins Spiel bringt und als die eigentliche Fundgrube des Festivals gelten kann, gefolgt von einer “Signals”-Sektion, die thematischen Linien folgt. Ein Schwerpunkt dieses Jahr war dem thailändischen Film gewidmet.
"Below and Above", Nicolas Steiner |
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Schauen wir aus in dieser unübersichtlichen Fülle nach dem wirklich Herausragenden wäre im Wettbewerb Nicolas Steiners “Below and Above” zu nennen. Steiner wirft ein kritisches Licht auf die Seiten- und Untertöne der gegenwärtigen Vereinigten Staaten. Einzelgänger, die in feuchten Tunneln oder öder Wüstenlandschaften vegetieren, Zeitgenossen, sie auf den Mars fliehen wollen : wieder einmal ist es der Dokumentarfilm, umgeben von einer Fülle von Spielfilmen, der die « irrealsten » und wirklich überraschenden Szenen einfängt, die ihre Wirkung entfalten und die Phantasie bei weitem mehr stimulieren als die kontrollierten Kopfprodukte der Filmindustrie . Steiner folgt seinen Charakteren mit viel Sympathie, ja Empathie. Er zeigt Menschen, die gerade in ihrem abgeschiedenen Aussenseiterdasein mehr Lebensintensität empfinden als sie den sich auf ihre standarisierten Alltagslüste beschränkenden Durchschnittsbürgern zugänglich sind. Hier zählt jeder Tag, jede Geste, jeder Fund, hier scheint alles bedeutsam und wird mit Bedacht behandelt.
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Im Kurzfilmwettbewerb geht die Exotiknote an “The Living Need Light, the Dead Need Music” der Propeller Group, ein Film der bei exstatischen Todesritualen in Südvietnam seinen Ausgang nimmt und in New Orleans endet, eine Wallfahrt der irrsinnigen Absurdität, die zelebriert wird als mögliche Antwort auf den Tod.
Ein Film, der frontal die Frage nach dem möglichen Überleben auf diesem Planeten angeht, und mit Themenfeldern wie Feminismus, Empathie, Spiritualität und ökologischen Herausforderungen anreichert, nicht zu vergessen den Cyberspace, und all dies, um die erstaunliche, halluzinatorische Pflanze Ayahuasca ins Spiel zu bringen, die wie das LSD, keine blosse Droge, sondern eine kulturelle Herausforderung und Bewusstseinserweiterung ist : “Night Soil – Fake Paradise” Melanie Bonajos versetzt den Zuschauer in den fruchtbaren Zustand einer perplexen Desorientierung, ein erster Schritt in eine neue Richtung.
Konzentrierter und selbstinniger geht es in Martijn Veldoen “Time and Place, A Talk with My Mom” (Tijd en plaats, een gesprek met mijn moeder) zu. Der Niederländer zeichnet das Leben seiner Mutter nach, eine Frau, die von einer Alzheimererkrankung gezeichnet vielleicht bald schon keine Auskunft mehr über ihr Leben geben kann. 50 Jahre verbrachte sie allein erziehend mit ihren vier Kindern in einem Haus gelegen an einem Kanal Amsterdamers. Veldoen gelingt es mit Zeichnungen, Photographien, graphischen Rekonstruktionen, Animationsbildern und seiner sensibel über die Alltagsgegenstände gleitenden Kamera, die allerdings nie das Gesicht der Mutter ins Bild bringt, vor allem aber durch seine vorsichtige Gesprächsform, diesem Leben in Einsamkeit gerecht zu werden, das so glücklich begann mit der Heirat eines viel versprechenden, quicklebendigen, brillanten Künstlers, der sie verliess um einer Anderen willen.
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"Time and Place, A Talk with My Mom" Martijn Veldoen
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Auf den ersten Blick ein blosses Standartschicksal, entsteht hier durch Veldoens Montagetechnik eines panoramischen Blickes ein hochgradig individualisiertes Einzelporträt und zugleicht ein historisch einprägsames Zeitdokument. Im Umfeld der sich zumeist durch Hybridität auszeichnenden aktuellen Filme wird hier erinnert an einen sehr einfachen und fragilen Lebensrhythmus.
Viel Beachtung fand ebenso Safia Bendhaims “La fièvre”, ebenfalls eine assoziative Rekonstruktion einer Kindheit und verlorenen Heimat in Marokko. Der Film wirkt einerseits wie eine Traumfahrt in das Unbewusste der Erinnerung, Fragmente eines Exodus evozierend, andererseits wie eine Suche nach einer verlorenen Welt, durchdrungen von den Anzeichen politischer Auseinandersetzung. Die Schönheit meditativer Stille wird kontrapunktisiert mit einer von Bedrohung und Angst durchdrungenen Atmosphäre, die Unheil, Flucht und Verfolgung anklingen lässt. Erst ganz am Ende lichtet sich der fliessende, traumartige Stil zu einer eher dokumentarischen Aufzeichnung, die die ersten Manifestationen des “arabischen Frühlings” in Marokko einfängt, in denen sich die Ängste bündeln und endlich zu einer offensiven Sprache finden.
Problemlos integriert das Rotterdamer Festival auch Filme, die einer "klassischen", will heissen narrativ linearen Filmform treu bleiben. Als einer der überzeugenden Filme in dieser Kategorie fiel "Angelus Novus" von Aboozar Amini (Afghanistan) auf. Er öffnet die Sicht auf die Situation der in der Türkei im Exil Lebenden aus der Perspektive von Kindern. Deren Kampf ums Überleben durch Schuhputzarbeiten auf der Strasse nimmt die Form körperlicher Auseinandersetzungen zwischen Kindern verschiedener Herkunft an. Die einen ärmer als die anderen streiten sie sich um die Stellplätze. Erst eine Schlüsselsituation macht ihnen klar, sich alle in derselben hilflosen Lage zu befinden. Amini folgt einem afghanischen Brüderpaar durch ihren Alltag und konturiert die von den Medien meist übersehenen Härten des Exils weit hinter den Frontlinien.
"I am a Spy", Sarah Wood |
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In dagegen fragmentiert assoziativen Sequenzen thematisiert Sarah Wood (Grossbritannien) in "I am a Spy" die Frage nach der Rekonstruktionvon Geschichte (das "Machen" von Geschichte) angesichts medialerMechanismus, grosser Informationsspeicher, Archivtechnologie und Informationsüberfluss. Auch das spezifische Phänomen des Doppelagenten klingt an. Sarah Wood betont ausdrücklich die aktuellen Bezüge ihrer Filmes. Anlässlich der Preisverleihung durch das Internationale Festival Signes de Nuit (Section Lissabon) schrieb sie im Juni 2015: Wir durchleben in Grossbritannien schwierige Zeiten. Die Regierung hat gerade ein weiteres Gesetz auf den Weg gebracht, das dem Staat noch mehr Überwachungsbefugnisse einräumt als sie bereits jetzt praktiziert werden und den Autoritäten ein Eingreifrecht bereits dann erlaubt, wenn wir Ideen diskutieren, d.h. vor jeder statthabenden Aktion. Dieses Beobachtungssystem zu beobachten ist vital.
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