Das Referenzfestival Schwedens zeigt ein weites Panorama der aktuellen Weltproduktion mit über 200 Filmen. Für jeden Geschmack wird hier etwas geboten. Neben dem eigentlichen Wettbewerbsprogramm, das auch hier den Restriktionen der Premieredoktrin Folge leistet, kommen vor allem in der Open-Zone-Sektion signifikante Werke zur Vorstellung.
Eines unter ihnen zeichnet sich von Anfang an durch die Überschreitung simpler Realitätsillusion aus. In Adilkhan Yerzhanos « The Owners » interferieren symbolische, surreale und hyperrealistische Ebenen. Sie verdichten sich einer Metapher absoluter Hilflosigkeit in rechtslosen Zonen, in diesem Fall situiert in Kazakstans. Doch der lokale Aspekt ist nur Folie, auf die globale Gefahr drohenden Chaos und anarchischer Willkür hinzuweisen, wenn staatliche oder administrative Ordnungen nicht mehr greifen. Im Zentrum stehen zwei Brüder und ihre noch minderjährige Schwester, die zu ihrem Familienhaus zurückkehren möchten, doch sogleich von einem debilen Familienklan, der sich das Haus einverleibt hat, im Verbund mit einer apathisch desinteressierten Polizei bedroht, angegriffen und entwürdigt werden. Die Gewaltszenen werden umsäumt von absurden Tanz- und Musikspieleinlagen, die die Aggressoren nicht als Sieger, sondern als Spielfiguren einer zur neunen Norm gewordenen Absurdität ohne jede Referenz auf Recht und Schutz erscheinen lassen. In diesem Szenarium gibt es keine Alternativen oder Fluchtwege. Der Tanz ist Todestanz. Eine morbide Gewalt dringt in jede Alltagsgeste. Selbst kurze Momente scheinbarer Harmonie und Solidarität werden von der schleichenden Eskalation der Besitzaneignung sogleich in Frage gestellt. Ein grinsendes Gesicht als Grabsteinmarkierung, ein gesichtsloser Sprechautomat als degradierter Verwaltungsbeamter und Krankenpfleger die nichts als anderes als Euthanasie zu bieten haben, bevor sie sich winkend und swingend davon machen sind nur einige der beeindruckenden visuellen Details der hier in Szene gesetzten Postgesellschaft, in der letztlich Entrechtete und Machthaber das gleiche freudlose Leben und Sterben teilen. Yerzhanov nutzt die Form der Groteske, um die Banalität der Willkür zum Tanzen zu bringen.
"Tales", Rakhshan Banietemad |
Eine brillante Studie der sozialpsysischen Dispositionen im aktuellen Iran schafft Rakhshan Banietemad in ihrem unter grossen Schwierigkeiten über acht Jahre entstandenen Film « Tales ». Um ihr Werk zu ermöglichen nutzte sie die additive Technik in sich geschlossener Kurzfilme, die über Scharniersituationen zu einem Langfilm verquickt werden. Im thematischen Zentrum einfache, entrechtete Arbeiter konfrontiert mit einer korrupten Administration sowie die anhaltende Unterdrückung der Frauen, die sich mit sinnentleerten Ritualen und perpetuierenden mentalen Barrieren konfrontiert sehen. Ausschweifende Rhetorik ersetzt wirkliche Kommunikation. Tabus unterminieren die Chance eines wirklichen Verstehens. Banietemads fassettenreiches, gesellschaftliches Panorama erfasst die diskursiven Schlüsselmomente, wo Mikromacht sich inszeniert. Ihr Film kann Anspruch erheben, Schlüsselwerk zum Verständnis der kulturellen Prägung des heutigen Iran zu sein.
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Die Kurzfilmtechnik erlaubt ihr, in ganz unterschiedliche Szenarien einzutauchen. Gerade daher kann sie den heteronomen Charakter einer Gesellschaft einfangen, die vor allem durch Kommunikationsbarrieren charakterisiert ist, die bereits das Verhältnis von Eltern und Kindern kennzeichnen. Der Film kann seine reduzierten Produktionsmittel nicht kaschieren. Doch die Reduktion auf Innenräume wirkt hier adäquat für die Darstellung einer geschlossenen Gesellschaft, wie auch die Handkameratechnik eine subjektive und partizipierende Haltung der Filmmacherin nur unterstreicht.
Dietrich Brüggemann geht in « Stations of a Cross » einer in christlich dogmatischen Wahn befangenen, provinzialischen Kleinfamilie nach. Verbote und Verhaltensregeln strukturieren jede alltägliche Situation, Tanz gilt als sündig, jede Form nicht kanonisierter Musik als dämonisch. In diesem nur sündevoll sein könnenden Leben laden sich vor allem die jungen Körper mit Schuldgefühle auf. Bis ins Extrem treibt dies die junge Tochter der Familie. Sie sieht in ihrem Opfertod den einzigen Ausweg aus ihrer moralischen Zwangssituation. Und dieser – so Brüggemanns ambivalente Pointe seines Films - zeitigt sogar die von ihr erhoffte Wirkung, für ihren Bruder einen Heilungsprozess einzuleiten. Brüggemanns Film ist klar in unterschiedliche Segmente geteilt, denen jeweils Titel vorweg gehen, die auf die Leidensgeschichte Jesus Bezug nehmen. Intensität gewinnt sein Film vor allem durch seine insistierende Darstellung der Atem erstickenden dogmatischen Diskurse, vor allem dominanten Mutter. Sein Film trifft ins Zentrum der aktuellen Fanatisierungsdebatte. Er dechiffriert die Genese ideologischen Radikalisierung.
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"Stations of a Cross", Dietrich Brüggemann
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"A Girl at my door", July Jung |
Eine vergleichbare analytische Kapazität offeriert der im internationalen Wettbewerb gezeigte Film « A Girl at my Door » von July Jung. Hier sind es die anhaltenden, patriarchalischen Strukturen sowie die nach wie virulente Homosexuellenfeindlichkeit der südkoreanischen Gesellschaft, die den Hintergrund bilden für zwei sich einprägende Frauenfiguren. Eine von ihrem Stiefvater wiederholt geschlagen Jugendliche, rächt sich schliesslich mit sublimer Intelligenz. Ihr für ihr Alter verblüffender analytischer Geist hat sie gelehrt, die Schwächen ihrer Aggressoren zu antizipieren und gegen sie zu wenden. Die andere Frauenfigur, nicht minder komplex, ist eine lesbische Polizistin, die ihre Depression und Schlaflosigkeit angesichts ihrer Degradierung und Zwangsversetzung in die Provinz mit Alkohol zu bekämpfen versucht.
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Zusätzlich desorientiert durch eine disharmonische Beziehung ist doch allein sie es, die während ihres Tagesdienstes gegen ein habituelles, manifestes Unrecht der lokalen Gewalten rebelliert. Auch ist sie die einzige Person, bei der die vereinsamte Jugendliche Hilfe zu findet. Zwischen den beiden Frauen, beide Opfer einer patriarchalischen Ordnung, entwickelt sich eine fast zärtliche Beziehung, die für die Polizistin fatale Konsequenzen haben kann. Mit dämonischer Intelligenz manövriert die traumatisierte Jugendliche auch ihre einzige Vertrauensperson in eine unhaltbare Situation. Jung schafft ein komplexes psychologisches Tableau der Interaktion zweier Einzelgängerinnen. Sie kristallisiert ohne jede simplifizierende Evokation des Bösen die unausweichlichen Konsequenzen einer auf Unrecht basierenden Gesellschaft.
In dem beeindruckenden Wettbewerbprogramm des internationalen Kurzfilms fand sich in Stockholm auch ein Meisterwerk der Kurzfilmkunst, will heissen, ein Werk, das ein fatale Situation zu einer Sequenz zu bannen vermag. Abounaddara, ein Kollektivname, der die Anonymität seiner Mitglieder garantiert, zeigt in dem syrischen Film « Of God and Dogs » einen jungen Mann, der vor der Kamera einen Mord an einem Unschuldigen gesteht, zu dem er sich aus Angst um sein eigenes Überleben, umgeben von Fanatikern, gezwungen sah. In nur einer Einstellung wird die psychische Selbstdestruktion, die sein Akt zur Folge hat, einprägend deutlich.
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"Of god and dogs", Abounaddara Collectif
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In die Tabugrenzen zwischen Handicap und Normalität begibt sich der kanadische Film « Take Me » Anaïs Barbeau-Lavalette und André Turpins. Ein Krankenpfleger wird von einem Intimität und Sex wünschenden, schwer gehandikapten Patientenpaar aufgefordert, behilflich zu sein, den Penis an der gewünschten Stelle zu platzieren. Mental überfordert sucht der Mann bei seiner Vorgesetzen Hilfe. Doch dies ist für ihn nur ein erster Schritt, die Regeln einer anderen Welt akzeptieren zu lernen.
"Listen", Rungano Nyone und Hamy Ramezan |
In « Listen » unternimmt es das Filmemacherduo Rungano Nyone (Zambia, Iran) und Hamy Ramezan (Iran, Finnland), die Hilflosigkeit humanitärer Einrichtungen, platziert in Kulturen, deren Sprache sie nicht mächtig sind, auf den Punkt zu bringen. Eine geschlagenen, um ihr Leben bangenden Frau sucht bei den internationalen Behörden Schutz, doch die Dolmetscherin boykottiert ihre Aussagen, während gleichzeitig der eigener Sohn der bedrohten Frau, für den sie Schutz sucht, ihren Aufenthalt an ihren gefürchteten Ehemann verrät. Die die Situation komplett verkennenden Beamten lassen sich, verstört durch die emotionalen Ausbrüche der verängstigten Frau, selbst zu verbalen Aggressionen hinreißen und situieren sich als zu respektierende Herrschaftsmacht.
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Der ebenfalls Kommunikationsprobleme im Iran thematisierende Film « The Baby » Ali Asgaris setzt eine junge Frau in Szene, die nicht den Mut hat, als Unverheiratete ihren Eltern die Existenz ihres Kindes zu gestehen. Angesichts des drohenden Besuches der Eltern irrt die junge Frau, begleitet von einer Freundin, rat- und rastlos durch die nächtliche Stadt, auf der Suche nach einer Bleibe für sie und das Kind. Doch wegen ihres rechtlosen Zustandes transformiert sich ihre Suche in einen Spiessrutenlauf. Wie schon in Banietemads « Tales » werden administrative Hürden und Entmündigungsszenarien der Frauen schmerzhaft spürbar. Die Nahansicht der Kamera verstärkt auch hier den Eindruck von Enge und Ausweglosigkeit.
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"The Baby", Ali Asgari
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Deutlich genug ist die Kurzfilmsektion Stockholms geprägt vom Interesse an aktuellen sozialen, psychischen und ethischen Konflikten. Ein starkes Kino, das Ausflüchte in ein Illusionscinema nicht nötig hat. Wieder einmal triumphiert der Kurzfilm in seiner Kompromisslosigkeit |