Für Insiders des Cannes Festivals ist es keine Neuigkeit: die wirklich komplexen, ausergewöhnlichen und innovativen Filme laufen nur ausnahmsweise im Wettbewerb. Dagegen hat der an Experimenten und Fremdartigkeiten interessierte Betrachter in der Nebenreihe "Un certain Regard" weit bessere Chancen, auf seine Kosten zu kommen. Hier wird gelegentlich noch eine wirkliche Differenzarbeit geleistete, angesichts des aktuellen Stands der Dinge der Weltkinoproduktion, die stets normierter und linearer wirkt. Dies verwundert kaum angesichts der üblichen Praxis der Drehbuchdominanz und -kontrolle, die Filme bereits in den ersten Stadien ihres Entstehungsprozesses kastrieren, noch bevor sich Produktionsanstalten und Schauspiel-Vips ihre "Ansprüche" gelten machen.
"The Salt of the Earth", Wim Wenders |
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Erfreut ist man da schon über kleine Abweichungen vom Üblichen. Wim Wenders machte einen kleinen Schritt weg vom Genormten und brachte mit "The Salt of the Earth" den gewiss nicht innovativsten Film, wohl aber das diesjährig wichtigste kulturelle Dokument nach Cannes, ein Werk, das mit stehenden Ovationen gefeiert wurde. Das Konzept ist denkbar schlicht. Er porträtiert den brasilianischen Fotographen Sebastiãno Salgado, der mit seiner Kamera die tragischen Schlüsselsituationen des 20. Jahrhunderts begleitete und dabei fast sein seelisches Gleichgewicht verlor. Salgado war in Äthiopien während der grosen Hungerkatastrophe, er photographierte die im Ölschlamm versinkenden Arbeiter in den brennenden Feldern Kuwaits, er lebte mit zurückgezogenen Einheimischen, die eine Problemlose Polygamie leben, im tropischen Regenwald, er konfrontiert sich mit dem Genozid in Ruanda und schliesslich mit der mörderischen Barbarei des zerfallenden Jugoslawien. Welthistorische Schlüsselmomente spiegeln sich in Salgados Photographien als
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Erleben und Erleiden des Einzelnen: ein Gesicht, ein Körper, eine Geste, in der sich die Tragödie einer ganzen Ethnie oder sozialen Gruppe konzentriert. Diese Photographien nun auf einer Grossleinwand zu sehen allein ist schon ein unvergessliches Erlebnis. Wim Wenders freundschaftlicher Kontakt mit Salgado und dessen ihn oftmals begleitenden Sohn Juliano Ribeiro, Mitautor des Filmes, ermöglicht ein schlichtes und intimes Porträt, das mit wenigen, vorsichtigen, mit gedämpfter Stimme gesprochenen Kommentaren auskommt. Hier werden auch Salgados Zweifel am Überlebensrecht der menschlichen Rasse auf diesem Planeten nicht ausgeklammert, die am Ende seiner Reisen stehen. Geschwächt durch eine die physisch-psychischen Krise geht Salgado ein letztes photographisches Werk an. Er riskiert den Schritt von der sozial engagierten hin zur Landschafts- und Naturphotographie und zelebriert die noch übrig gebliebene Naturschönheit auf diesem Planeten. Eine zärtliche Berührung mit einem Wal und eine Kommunikation mit Affen sind nun die ihn prägenden Erfahrungen. Noch wichtiger ist vielleicht, dass er sich, zusammen mit seiner Frau, zum Verantwortlichen der gross angelegten Wiederaufforstung einer usgedürten Landschaft in Brasilien macht. Dieses Projekt zeitigt überraschenden Erfolg. Selbst verloren geglaubte Spezies kehren zurück. Sein Projekt hat Modellcharakter und weist auf eine immer noch mögliche Rückkehr zu einem synthetisch-organischen Lebensstil. Auch Wenders Film selbst hat Modellcharakter: er durchquert die Katastrophen des Jahrhunderts, ohne in Depression zu versinken.
Eine überaus beeindruckende Rekonstruktion des frühen 18. Jahrhunderts schafft die Österreicherin Jessica Hausner in ihrem Film "Amour fou". Die Figur des deutschen Dramatikers Heinrich Kleist (1777-1811) wird in einen nicht nur durch Kostüme und Gerätschaft sorgfältig rekonstruierten historischen Rahmen gestellt, sondern vor allem durch Sprechgewohnheiten und Verhaltensweisen, die einen wirklichen historischen Abstand schaffen. Kleist sucht nicht geringeres als eine Liebespartnerin zum Sterben. Er plädiert für den gemeinsamen Freitod in denkbar schlichter und unbefangener Weise und erhält eben solche linearen, kristallinen und direkten Antworten. Diese Gespräche finden problemlos auch in öffentlichen Salons statt. Die Figuren in Haussers Welt wirken wie aus einer Welt vor der Erfindung strategischer Rhetorik und vor einer psychoanalytischen Verklausulierung der Umgangsformen. |
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"Amour Fou", Jessica Hausner
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Selbst Ehemänner reden hier ihren Frauen zu, den für sie Besseren zu wählen. Diese Welt wirkt denkbar intensiv auf den heutigen Zuschauer, alles andere als naiv, eher als eine von der Existenzangst befreite Wirklichkeit apathischer Unbeirrbarkeit. Hier wird kein Satz zuviel gesprochen. Unvertuschte Gedankenwechsel über Tod und Leben sind Standart. Der isolierte Schriftsteller Kleist sucht eine Sterbenspartnerin und findet sie in einer berührend klaren Frau, die in ihm eine poetische Existenzform findet, nach der sie verlangte, ohne um sie zu wissen. Tragisch, dass sie am Ende einer anderen Lebenshoffnung eher folgen wollte, aber keine Zeit mehr hat, dies auszudrücken. Hausser meidet beachtlicherweise alle hier denkbaren Inputs von Emanzipationeinforderungsklischees. Gerade daher gelingt es ihr, die historische und situative Komplexität einer fernen Welt einzufangen.
"Loin de Mon Père", Keren Yedaya |
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Geschlossene Szenarien, häusliche Enge, familiärer Überdruck, religiöser Fetischismus sind signifikante Merkmale des zeitgenössischen israelischen Films. Was sich sozialhistorisch als Abkapselung inszeniert, reproduziert sich im privaten Leben als Isolation der Familienenklave. Diese bis zum Inzest eskalieren zu lassen und ins Bild zu bringen wagt Keren Yedaya in "Loin de mon père" (That Lovely Girl). Yedaya inszeniert die Vater-Tochter-Beziehung als eine Eheproblematik, markiert durch sadistische Tendenzen des Vaters und dümmliche Eifersucht der immerhin erwachsenen Tochter, die ihren Weg aus dem Appartement heraus nie geschafft hat. Erst die zufällige Begegnung mit einer anderen Frau, auch sie scheinbar Opfer erlittener Entwürdigungen, hilft ihr zu den ersten eigenen Schritten.
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Doch ihr erster Befreiungsakt am Strand beschränkt sich darauf, sich der Lust einer Gruppe von Männern preiszugeben. Fast teilt sie noch am Ende den Traum eines gemeinsamen Kindes mit ihrem Vater. Erst die Abtreibung verschafft ihr die Möglichkeit einer eigenen Existenz. Yedaya zeigt die inzestuöse Situation in ihrer Komplexität und Ambivalenz jenseits einfacher Opfer-Täter-Schemata. Sie fängt die klaustrophobische Enge dieses sexuellen Vakuums in Nahansichten und Zoombewegungen ein. Die literarische Vorlage ihres Filmes, Shez' Roman "Far From His Absence", wurde weitgehend transformiert zu mehr Enge und Isolation. Die Regisseurin kann auf hinreichend persönliche Erfahrungen mit vergewaltigten Frauen zurück sehen, um Stereotypen zu meiden. Wie schon in "Or" (My Treasure, 2004) und "Jaffa" (2009) steht erneut eine unterdrückte Frau auf ihrem steinigen Weg zu einer Selbstbefreiung im Zentrum ihres Films, doch "My lovely Girl" ist Yedayas Einschätzung nach subversiver, denn die Frauenfigur bietet weit weniger eine Identifikationsfolie für Sympathien. Auf der anderen Seite bedarf Yedaya eines immer noch manipulierenden, egozentrischen und sadistischen Vaters, um Inzest in einem rein perversen Licht zu zeigen.
Einen weiteres umgreifendes Konfliktfeld berührt der Ungar Kornél Mundruczó mit seinem Film "Fehér Esten" (White God): die Tortur der Tierwelt durch den Menschen, genauer und in diesem Fall: der Einkerkerung und Abrichtung von Hunden zu Kampftieren. Ein eigentlich zahmes Tier wird von einem unsensiblen Mann trotz lebhaften Widerspruches seiner Tochter vor die Tür gesetzt. Als Irrläufer gefangen wird das Tier schliesslich zur Todesdrone abgerichtet. Doch gelingt dem Hund die Befreiung aus dem Massenkäfig. Es wird zum Leittier der Befreiung, das sich recht nachhaltig an Allen rächt, die ihm seine friedfertige Natur haben nehmen vollen, bis er am Ende die Flötentöne seiner ehemaligen jungen Herrin wieder hört. |
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"Fehér Esten", Kornél Mundruczo
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An dieser Stelle schafft Mundruczó ein unglaubliches Bild, dessen Zustandekommen eine offene Frage bleibt. Dass eine neue (Hunde-)Steuer am Anfang dieser ganzen Katastrophe steht, die den Hausvater zur Herhauswurf veranlasste und zu überfüllten Käfigen führte, darf man dem aktuellen ungarischen politischen Kontext metaphorisch anheim stellen. Die Metaphorik wird in Mundruczós Film in poetischen Bildern und überzeugenden Kamerafahrten dargeboten. "Wer und wie man Monster erschafft und wer daran die Schuld trägt" war schon nach Mundruczós eigenen Worten Thema seines Vorgängerfilm "Das Frankenstein Projekt" (2010). In den von uns geschaffenen Monstern sehen wir das Spiegelbild unsres Selbst.
"Turist", Ruben Östlund |
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In klaren und stringenten Einstellungen situiert der Schwede Ruben Östlund in "Turist" die Geschichte der Initiation einer Verachtung in einer hochalpinen, verschneiten Berglandschaft. Von Anfang an arbeitet er subtil mit Zeichen, die dieses artifizielle Paradies bedrohen. Ein Ehepaar mit zwei Kindern auf Skiurlaub wird hier von einer heranrollenden Lawine auf der Terrasse ihrer Hightech-Hotelanlage überrascht. Spontan bringt der Vater sich und nur sich in eine vermeidliche Sicherheit und kehrt nach dem Abklingen der Gefahr kommentarlos an seinen Platz zurück. Später wird er seine Tat vergeblich zu leugnen versuchen. Doch eine Kamera zeichnete die ganze Szene auf und bezeugt die Fakten. Auf dieser Miniatursituation des Versagens errichtet sich nun die gesamte Architektur der Anklage, Verdammung und Verachtung des Ehemannes, zelebriert von seiner Frau vor den Augen gemeinsamer Freunde.
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Immer wieder wird die Situation von allen Seiten beleuchtet und interpretiert, alles - Beziehung, Ehe und Liebe - in Frage gestellt. Der Schmerz scheint untilgbar, ein Bruch, ein Ende hat sich vollzogen. Erst durch die zufällige Chance einer Bewährung, gewinnt der Mann seine Würde und (Selbst-)Achtung zurück. In Östlund Film brechen archaische Gefühlsimpulse ein in das künstliche Naturamüsementspektakle. Allein durch seine Kameraführung setzt Östlund den Skiort am Rande des Abgrunds in ein bereits eindeutig unbehagliches Licht, in dem kommerzialisierte Familienidylle nur scheitern kann. Die ästhetische Brillanz seiner Kadrierung allein macht "Tourist" zu einem der eindringlichsten Filme dieses Cannes-Festivals.
Gruppenverhalten und die Platzierung des Menschen als Herdenwesen standen bereits im Zentrum von Östlunds Film "Involuntary" (2008). Als Gestalter des aus der Ferne beobachteten Situationsirrsinns empfahl sich Östlund bereits in seinen Kurzfilmen "Scen nr. 6882" (2005) und "Incidence by a Bank" (2009). Er darf sich zweifellos ein Meister des Einbruchs in die fragile Schicht der Zivilistionsgesten nennen
Der vielleicht psychologisch komplexeste Film, der Fragen eines Jenseits von Gut und Böse aufruft, kommt aus Südkorea. "Dohee-Ya" (A Girl at My Door) von July Jung behandelt die Begegnung zweier ungleicher und doch verbundener weiblicher Existenzen: eine junge Polizistin, die wegen lesbischer Ambitionen in eine Kleinstadt zwangsversetzt wird, und eine Vierzehnjährige, Opfer eines sie schlagenden Stiefvaters und Stiefgrossmutter. Beide Frauen müssen ihren Weg zu einer Selbstbehauptung und Selbstverteidigung finden. Die Polizistin ist konfrontiert mit einer Polizeibehörde, die über Delikte eine Geschäftsmannes hinweg sieht, der illegal mit Emigranten arbeitet, trinkend unkontrollierbar wird und gewohnheitsmässig seine Stieftochter malträtiert.Diese flieht in die Obhut der Polizistin, macht sie geschickt zur Komplizin und klagt sie, als er ihr günstig erscheint, fälschlicherweise sexueller Delikte an. |
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"Dohee-Ya", July Jung
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Doch als das einsame Mädchen erkennt, was die Konsequenz ihrer Aktion auf ihre einzige Vertraute ist, inszeniert sie erneut eine Situation, in der die ihren Stiefvater als Vergewaltiger in Szene setzt. Die Polizistin kommt frei, aber sie beginnt zu ahnen, mit welch strategischer Brillanz ihre junge Freundin sowohl deren aggressive Grossmutter, als auch brutalen Stiefvater aus dem Weg geräumt hat, aus Notwehr gewiss, aber nachhaltig mörderisch im Falle der Verschiedenen. Wie sich verhalten? Was ist Recht, was ist Unrecht? Jungs Film wirft viele Fragen auf, vor allem zur Souveränität und (Selbst-)bewusstheit von Minderjährigen. Ein faszinierender Film, dessen moralisches Fragesregister nachklingt.
Ein weiterer, mit moralischer Ambiguität sich auseinander setzender Film kam von China nach Cannes. Bereits 2006 wurde Wang Chaos Film "Luxury Car" mit dem Hauptpreis der Sektion "Un Certain Regard" geehrt. Mit dem ebenso problemorientierten Werk "Fantasia" entwirft Chao das Tableau einer Familie, dessen an Leukämie erkrankter Vater durch seine Krankenhauskosten seine Familie langsam in den materiellen Abgrund treibt. Seine Ehefrau ist ausgelaugt von einer Vielzahl kleiner Jobs, seine Tochter zur Prostitution gezwungen, sein Sohn in der Schule isoliert und gehänselt. Der sein Leben lang hart für seine Familie gearbeitet habende Erkrankte ist sich der Situation bewusst, spielt mit dem Gedanken an Selbstmord, doch sein Sohn, von einer Intuition gewarnt, hält ihn zurück. Wang Chao platziert seine Geschichte in eine konturlose Industriestadt. Bis auf den positiven Impakt eines Lehrer, der versucht, zumindest der Ehefrau behilflich zu sein, zeichnet er eine Welt des isolierten Überlebenskampfes in einer globalisierten Welt ohne Sicherheitsscharniere. Leben oder leben lassen ist hier die harte Alternative auf die Formel der Jetztzeit gebracht.
"Charlie's Country", Rolf de Heers |
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Die fatalen Folgen der Globalisierung und der damit einher gehenden kulturellen Extinktion sind Thema auch des beeindruckenden Films "Charlie's Country" Rolf de Heers. Der in den Niederlanden geborene heutige Australier geht Charlies Schicksal nach, ein australischer Ureinwohner, der wie seine Mitgenossen von der dominanten Gruppe der Weissen in relative Armut getrieben ohne Job und Perspektive dahinlebt. Sie flüchten in Alkohol und Rausch. Doch auch dieses wird ihnen untersagt, Alkoholausgabe verboten. Von ihren Versammlungsplätzen werden sie vertrieben. Charlie versucht dieser Sachgassensituation zu entkommen und in den Dschungel zurückzukehren, in der Hoffnung, seine Würde und Identität wieder zu finden. Diese radikale Entscheidung kostet dem Mann, dessen Körper nicht mehr auf diese Härte vorbereitet ist, nahezu das Leben.
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In einem Verzweiflungsakt wehrt er sich gegen die erneut ihre Feste untersagende Polizei. Inhaftiert, ein weiteres Mal gedemütigt, seiner Haartracht beraubt, gelingt es ihm doch, nicht in die Apathie und Hoffnungslosigkeit seiner Kumpane abzurutschen, sondern zum Lehrer und Erinnerer ihrer Traditionen zu werden. Heer schafft einen aussergewöhnlich eindringlichen Film über die besondere Vereinsamung, die der Verlust kultureller Identität verursacht. David Gulpill wurde für seine hervorragende Darstellung von Charlie mit dem Preis des besten Schauspielers ausgezeichnet. Ohne zu dämonisieren macht Heer Ignoranz und Arroganz einer herrschenden Gruppe schmerzhaft spürbar, die ein Land okkupiert, von deren Traditionen sie nicht einmal eine wage Ahnung haben
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