Unter den grossen Kurzfilmfestivals besticht Clermont-Ferrand durch seine gelassene Perfektion. Die weit über 10 Spielflächen funktionieren fast ohne Zwischenfälle. Eine Videotheque mit über 30 Sichtungsplätzen ist vor allem für die aus aller Welt anreisenden Professionellen von entscheidender Bedeutung. Diskussionsrunden zu einzelnen Filmen werden vormittags angeboten, um nicht mit den abendlichen Projektionen zu kollidieren. Herzstück des Festivals aber ist der quicklebendige Filmmarkt, wo etwa 30 Institutionen und Nationen sich spätestens ab 17 Uhr gegenseitig zu Speis und Trank einladen, und dies jeden Tag. Weniger geht es hier um Geschäfte, als um die Kultivierung eines Milieus. Da der Kurzfilm kommerziell wenig ausbeutbar ist (wenn auch her immer mehr Filmvertreiber noch einen kleinen Profit rausschlagen wollen und sich zwischen Filmemacher und Festivals schieben), ist es eher der internationale Austausch und Erarbeitung kultureller Projekte, die hier im Mittelpunkt stehen, abgesehen von den ebenfalls präsenten TV Stationen wie Arte und Canal +, denen Mittel für eine Förderpolitik zur Verfügung stehen.
Zusätzlich zu den 14 internationalen, 12 französischen und 5 « Labo » (will heissen experimentierfreudigen) Programmen bietet das Festival ebenfalls Sektionen für lokale Produktionen, wie nationalen und thematischen Sonderprogrammen. Schon zum dritten Mal wird die afrikanische Kurzfilmkultur mit einer mehrteiligen Werkschau geehrt. In Clermont-Ferrand sympathisiert man mit aufkeimenden Bestrebungen, ohne gewiss Eigeninteressen, sprich konkrete Produktionskollaborationen aus dem Auge zu verlieren. Zugleich hatten die USA Gelegenheit zur Präsentation eines Panaromas. Vergessen wir nicht, dass Filmförderung in den Staaten nahezu ein Fremdwort ist. Die im nichtkommerziellen Feld arbeitenden Filmemacher arbeiten in diesem Sinne unter « afrikanischen » Bedingungen. Unter den eingeladenen Filmhochschulen war es diesmal die New York University, die zwei Programme anbot.
"Der Lastwagen meines Vaters (Xe tai cuo bo)" Mauricio Osaka
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Unter den hervorzuhebenden Beiträgen des Internationen Wettbewerbs zu nennen ist gewiss Mauricio Osaka « Der Lastwagen meines Vaters » (Xe tai cuo bo). Dieses in Vietnam gedrehte Werk des in Brasilien lebenden Filmemachers besticht durch seine einfühlsame Beobachtung, die Einblicke in eine noch naiv-kindliche Seele erlaubt. Die zehnjährige Mai Vy riskiert schon viel, um nur ein Vogelei zu retten. Genervt von ihren aggressiven Mitschülern flüchtet sie sich zu ihrem Vater, der als Lastwagenfahrer seinen Tag verbringt. Dieser schliche, eigentlich zärtliche Mann verdient sein Geld jedoch unter anderem damit, eingefangene Hunde zum Schlachter zu bringen. Als seiner Tochter darüber die Augen aufgehen, bricht für sie eine Welt für immer zusammen. Doch zeigt ihre Reaktion, dass sie angesichts der traumatischen Erfahrung nicht aufgibt. Zumindest einem Hund rettet sie das Leben, indem sie ihn in ihrer Jacke versteckt. Osaki folgt seiner Protagonistin aufmerksam in ihrem Schmerz und ihrer Rebellion. Die Initiation eines neuen Bewusstseins, das Mitgefühl zurückstellt, Zwänge anerkennt und Ideale hinter sich zu lassen beginnt, findet hier eine eindringliche Bildsprache.
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Aus Israel kommen mitunter die schärfsten Kritiken, sowohl gegen die aktuelle israelische Politik wie gegen dortige kulturelle Handlungssets und emotionale Geflogenheiten. In Yoav Hornungs « Deserted » sind es zwei Soldatinnen auf ihrem letzten Felddienst vor dem Urlaub, die in eine kritische Situation geraten, da die eine ihr Gewehr in der Steppe liegen liess. Um es wieder zu finden benutzt sie einen zufällig vorbei kommenden Araber, der sein Lasttier sucht, für ihre Zwecke. Mehrfach sucht der Mann eine schlicht humane, entspannte Situation zu schaffen. Er bietet der bewaffneten Frau Früchte an. Doch die professionell Traumatisierte fürchtet nur das Messen in seiner Hand, mit dem er die Frucht schälen will. Als sie sich schliesslich eingestehen muss, die Situation gegenüber ihren Vorgesetzten nicht mehr in den Griff zu bekommen, simuliert sie, von dem Araber angegriffen worden zu sein, indem sie sich selbst mit seinem unter erneutem Vorwand erheischten Messer ins Bein sticht. Ihr Plan gelingt. Der Mann wird erschossen von den herbei eilenden Hilfskräften. Hornung rekonstruiert in wenigen Minuten die psychosomatische Keimzelle des Israelisch-Arabischen Konfliktes, gekennzeichnet durch abgrundtiefes Mistrauen und Instrumentalisierung. Selbst eine Selbstverstümmelung wird dem « Gesichtsverlust » vorgezogen. Der Tod des Anderen wird als das kleinere Übel in Kauf genommen. |
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"Deserted", Yoav Hornung
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" Die Schlüssel zum Paradies (Paratiisin Avaimet)" Hamy Ramezan
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Mit vergleichbarer Prägnanz beschreibt Hamy Ramezan in der finnischen Produktion « Die Schlüssel zum Paradies » (Paratiisin Avaimet) Fanatisierungstendenzen der iranischen Gesellschaft auf familiärer und schulischer Ebene. Wir schreiben das Jahr 1984. In der Kriegssituation suchen zwei minderjährige Brüder nach einer Überlebenschance, halten sich mit kleinen Jobs über Wasser und versuchen die Schule nicht zu versäumen. Der ältere, 15jährige will, politisch bereits luzide, mit seinem Bruder das Land so schnell wie möglich verlassen. Er weis, dass sein eigener, identitätsschwacher Vater sein Hauptrisiko ist, da er ihn stellvertretend für sich in den Krieg schicken möchte. Administrative Zwänge führen dazu, dass er dem gefürchteten Schicksal nicht entgegen kann, um zumindest seinem Bruder eine Chance zur Ausflucht zu lassen. Mit Meisterschaft gefilmt in vorwiegend dunklen Innenräumen, in denen Luftmangel, der erdrückende ideologische Input und vernebelte Bewusstseinsformen nahezu körperlich fühlbar werden, prägt sich Ramezans Film nachhaltig ein.
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Als makabre Zukunftsvision zwischen Horror und Groteske beeindruckt der schwedische Film Henry Moore Seiders « Eine lebende Seele » (A Living Soul / En Levande Själ). Ein mit Selbstbewusstsein ausgestattetes, nach einem Unfall im Überlebensbehälter platziertes Gehirn, kämpft hier in einem medizinischen Laboratorium hilflos um sein Überleben. Da werden herum streuende Tiere ebenso zur Gefahr wie betrunkene Krankenwärter oder experimentierfreudige Mediziner. Diese Horrorversion eines körperlosen Selbstbewusstseins steigert nur aktuelle Tendenzen der Körpervirtualisierung ins Absurde. Vielleicht wird dieses Überlebensmodell einer artifiziellen Unsterblichkeit schon bald Realität. Denn wie viel Körper braucht das Bewusstsein?
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"A Living Soul", Henry Moore Seider
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" Minerita" Raul de la Fuentes
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Überlebenskampf ist Thema auch in Raul de la Fuentes und Amaia Remírez dokumentarischen Werk « Minerita ». Hier sind es bolivianische Frauen, die in Behausungen am Rande von Minenbergwerken ihr tristes Dasein fristen. Täglich sind sie dem wilden Treiben der verrohten Minenarbeiter ausgeliefert, die ihr Brot unter Lebensgefahr verdienen. Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Nicht einmal Wachhunde halten die Herumstreuenden zurück. Lediglich mit Dynamitstäben halten die Frauen jede Nacht die Angreifer zurück. Eine der sich der Frauen gesteht, dass sie ihren eigenen Vater zu den potenziellen Vergewaltigern rechnen muss, von dem sie bereits hinreichend geschlagen und entwürdigt wurde. Eine halbe Stunde taucht der Zuschauer ein in das herbe Szenarium der Cerro Rico de Potosi-Region, in der Gewalt zur normalen Umgangsform geworden ist. Er zeigt mutige Frauen. Eine unter ihnen scheut auch die gefahrvolle Untertagearbeit nicht, um sich Respekt zu verschaffen. Erst die Schlusssequenz des Filmes bietet Erleichterung. Offensichtlich lud der Regisseur eine dieser Frauen ein zu einer Reise in die Salzwüste. Die neue Erfahrung einer offenen, hellen Landschaft lässt die junge Frau spontan tanzen. Zu zeigen, wie viel Lebensenergie und Lebensfreude trotz allem in diesen verängstigten Körper in sich tragen, ist ein bemerkenswert überraschendes Finale.
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In der experimentelleren Arbeiten bietenden Labo-Sektion in Clermont-Ferrand bot der in Belgien lebende Olivier Smolders eine der zweifellos komplexeren Arbeiten an der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. « Der Teil des Schattens » (La part de l’ombre) geht dem Schicksal des ungarischen Fotographen Oskar Benedeks nach, der 1944, am Tag seiner ersten grossen Ausstellung in Budapest, plötzlich und für immer verschwand. Schicht für Schicht werden die Fassetten seiner Existenz evoziert. Der traumatische Nachhall des Todes des jungen Bruders, die surrealistische Phase und die dunklen, rätselhaften Arbeiten seine letzten Jahre bilden drei Werk- und Lebensphasen, in denen Serien Masken tragender Nackter in teilweise obszönen Posen und schockierende Fotographien von chirurgischen Eingriffen vorwiegend an Kindergesichtern, deren Umstände bis heute im Verborgenen liegen, weitere Rätsel aufgeben. Kaum verwunderlich, dass Benedekt sich auf der Entartetenliste der Nazis wieder fand und mit seiner jüdischen, kreativen Wegbegleiterin in Lebensgefahr geriet. Seine Begegnung mit recht eigenwilligen Psychiatern während der Kriegsjahre und seine fast mythisch-manische Einstellung zum Akt des Photographieren selbst, der für ihn gleichbedeutend war mit einer partiellen Abtötung des Fotografierten, sind weitere Mosaiksteine dieser komplexen, letztlich ungreifbar bleibenden Künstlerpersönlichkeit. Ein Film, der sich mehrfacher Lektüre anbietet. |
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"La part de l'ombre", Olivier Smolders
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" Vegas" Lukasz Konopa
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In dem aus Großbritannien kommenden Werk « Vegas » konfrontiert Lukasz Konopa den amerikanischen Traum des schnellen Geldes, der in kaum einem Ort so ungeschminkt inszeniert wird wie in Las Vegas, mit der herben Wirklichkeit hinter den Kulissen. Ein stresserfülltes Leben von Job zu Job, unter ernormen Erfolgsdruck, da der Traum nicht aufgegeben wird, bis hin zum Verlust aller Habe, Obdachlosigkeit und totalen Vereinsamung, dies sind die wahren Fakten hinter dem schönen Schein. Doch an weiterhin den Traum preisenden Stimmen mangelt es in Konopas Dokumentarfilm nicht. Den Schwerpunkt jedoch setzt er auf die kommentarlose Aufzeichnung des Alltages einiger ausgewählter Überlebenskämpfer oder gänzlich Abgerutschter. Die gelungenen Kurzporträts verdichten sich zu einem Szenarium des Kampfes um den Erhalt der Illusion trotz besseren Wissens in der Stadt mit einer der höchsten Arbeitslosigkeitsraten der Vereinigten Staaten.
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« Notrufe » (Hätäkutsu) sind die Basis von Nannes Vartiainen und Pekka Veikkolainens gleichnamigen Werk. Das finnische Freundespaar beliefert seit Jahren die Weltfestivals mit immer wieder preisgekrönten Filmen. Hier schaffen sie eine magisch suggestive Atmosphäre einer Welt in Hochspannung, gefilmt teils aus ausserirdischer Ferne, teils in den Zentren der Katastrophen. Über weite Passagen hinweg ist die Kamera auf die Gesichter der professionellen Katastrophen-Nachrichtenempfänger fixiert, die in ein magisch kühles blaugrünliches Licht getaucht in Szene gesetzt werden. Sie versuchen Ruhe und Konzentration zu erzeugen, um das Chaos zu ordnen. Die Nothilfe suchenden Stimmen kommen von überall, vom Meer, von den Strassen und aus den Haushalten. Fast ausschliesslich handelt es sich hier um authentische Originalaufnahmen. Auch einige Momente des Humors glimmen auf, wenn Notrufe vielleicht doch nicht wirkliche sind. Weit überwiegend aber ist das beeindruckende Panorama eines Land, Stadt und Wasser übergreifenden Katastrophenmanagments, das hier ästhetisch eindringlich in Szene gesetzt wird. |
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"Notrufe", Nannes Vartiaine, Pekka Veikkolainen
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" Noah" Patrick Cederbergs und Walter Woodman
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Neue Beziehungs-, Handlungs- und Gefühlformen angesichts der um sich greifenden, durch das Internet geschaffenen Transparenz, das bis vor kurzem noch intakte Intimitätszonen unterhöhlt, sind Themen in Patrick Cederbergs und Walter Woodmans Film « Noah ». Der kanadische Film zeigt lediglich einen Computerbildschirm, auf dem sich in blitzschneller Folge Dinge ereignen. Ein junger Mann bricht nach einem Internetplausch in das Facebook seiner Geliebten ein und entdeckt dort einen vermeidlichen Konkurrenten. Er recherchiert die Person, ändert die Zugangsdaten ihrer Box, schickt Musikstücke ab, plaudert mit Kumpanen, nimmt gleichzeitig immer wieder kurzen Kontakt auf mit diversen Chat- und Sexforen… die enorme Geschwindigkeit, wie hier emotionale Beziehungen zerbrechen und neue gesucht werden, die atemraubenden Möglichkeiten, Andere zu kontrollieren und zu manipulieren, die neue Unverbindlichkeit zwischenmenschlicher Kontakte, all dies in « Noah » evoziert, ohne explizit gemacht zu werden. Die Aktion selbst bleibt kompromisslos auf den Bildschirm beschränkt, der zum neuen Schauplatz der Wirklichkeit wird.
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In der französischen Sektion beeindruckte die deutsch-französische Koproduktion « Shopping » von Vladelien Vierny. Ein Halbwüchsiger ist von seinem mittellosen Vater zum Einkaufen in den Supermarkt geschickt worden. Da das Geld selbst für die notwendigsten Dinge nicht reicht, begeht der Junge einen unbedeutsamen Diebstahl. Er wird gefasst und mit Drohungen eingeschüchtert. Offensichtlich ist der schüchterne Minderjährige zum ersten Mal der aggressiven Ordnungsmacht ausgesetzt. Lediglich ein schwarzer Wärter deutet die Situation angemessen und entlässt ihn aus der emotionalen Tortur, ermahnt ihn zugleich aber, seine Haltung zu bewahren. Ein wahrer Akt der Solidarität unter den Entbehrungen Gewohnten sind. Die situative Verdichtung von sozialen Konfliktfeldern zu kristallinen Situationen ist Herausforderung und Stärke des Kurzfilmes. Auch in diesem Jahr bot Clermont-Ferrand eine Fülle von Beispielen, wir brillant diese Aufgabe gelöst werden kann.
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"Shopping" Vladelien Vierny
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