Es ist schon erstaunlich. Da lästern Scharen von Filmkritikern (zu recht, oft hinter vorgehaltener Hand) über das bestenfalls mittelmäßige diesjährigen Wettbewerbprogramm in Berlin, aber kaum einer von ihnen macht sich daran, über die bekanntlich herausfordernden und singuläreren Filme des Panorama- oder Forum-Programms zu schreiben. Diese Journalisten sind folglich selbst Teil des Problems, das sie beklagen. Sie bedienen den Betrieb, berufen sich auf die Auflagen ihrer Redaktionen und versagen sich, ihren eigenen Interessen zu folgen und ihr Wissen zu artikulieren. Der Traum sei gewagt, Filmkritiker grosser Medien berichten nicht mehr über Hightech-Märchenkisten wie «La Belle et la bête» (Christophe Gans, Frankreich, Deutschland) oder rein grossväterlich gegen Moral moralisierende Werke wie «Nymphomanic» (Lars von Trier, Dänemark etc., etc.), sondern über Werke mit wirklich individueller Handschrift, wie etwa «A Dream of Iron» (Cheol-Ae-Kum) Kelvin Kyung Kun Parks (Korea) beeindruckende Synthese von Industriekultur, Monumentalität und Sublimität oder über «N – The Madness of Reason» des Belgiers Peter Krüger, eine grossartige assoziative Reise durch ein Afrika, die hier noch wirkliche kulturelle Fremdheit bietet. Die Reisenden finden sich in eine orientierungslose Borderlineexistenz versetzt. Ihr Interpretationsvermögen wird überfordert.
Wenn diese Kollegen ihre Informations- und Interviewmaschinerie in dies Forum-Sektion tragen würden, und die Produkte der hoch finanzierten Unbedeutsamkeit schlicht ignorierten, dann könnten sich die Dinge wirklich ändern, zugunsten der Berlinale wie zugunsten eines noch neugierigen und erfahrungssuchenden Publikums. Doch unabhängigen Filmkritikern sind rar. Hier liegt der Grund für das Kränkeln des Genre Filmkritik selbst, das sich durch falsche Vororientierungen selbst in Frage stellt.
Konsequenterweise machen dann auch einige Festivaldirektoren keinen Hehl daraus, dass sie kaum noch Filmkritiken lesen, sondern sich lieber an Facebook und Twitternachrichten orientieren. Hier kommt mehr Spontaneität, Argumentationsvielfalt und Frische rüber als von den vorhersehbaren Argumenten der immergleichen, VIP-hörigen, Kritik auf Hofberichtserstattung reduzierenden Medienlieferanten.
Selbst der Goldene Bär, Yinan Diaos "Bai Ri Yan Huo" (Schwarze Kohle, dünnes Eis) ist nicht mehr als ein Genrewerk vom Typ Crime und Horror. Richard Linklater vermag in « Boyhood » zwar die Leere unserer Konsum- und Karriereszenerien subtil anzudeuten, doch stilistisch ist sein Film ununterscheidbar vom Niveau einer TV-Familienserie. Die norwegisch-schwedisch-dänische Koproduktion « Kraftidioten » (In Order of Disappearens) Hans Peter Molands, schreibt nicht nahtlos ein in das Hollywoodschema Nummer Eins à la Clint Eastwood: ein Gerechter gegen den Rest der Welt. Ein schlichter Ehemann zeigt es der Mafia, mit ihren eigenen Mitteln, nur eben besser. Revanchegelüste triumphieren.
"A dream of Iron", Kelvin Kyung Kun |
Sprechen wir also von Essenziellerem. Dem schon erwähnte Film « Cheol-Ae-Kum » (A Dream of Iron) (Republik Korea, USA) Kelvin Kyung Kun Parks gelingt das erstaunliche Experiment, die Monumentalität grosser Industrieanlagen als eine sublim metaphysische Weiterfahrung zu zeigen. Er schafft gelingende Synthesen zwischen Tierstimmen, schamanischen Gesängen und symphonischen Klängen. Aus anderer Perspektive eruiert sein Film auch eine kritische Potenz, da er den maschinellen Arbeitsprozess derart triumphal ins Bild setzt, dass all das ihn begleitende Personal, sprich die Arbeitenden, zu einem unbedeutsamen Marionettendsein reduziert werden. Folglich feiert hier die Pharaonische Vision der Göttlichkeit ihre überraschende Wiederkehr. Gottsuche wird zur Selbstverlust angesichts makroökonomischer Prozesse.
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Anders gesagt, es ist ein wütender Gott, der in Form enormer Stahlwerke Funken und Feuer spritzt, der hier triumphiert, ein Gott, der für menschliche Haut keinen Überlebensort bietet.
Eine Einladung zu Dialog und Denken bietet Mehran Tamaden « Iranien ». Nicht ohne Risiko bringt er dogmatische Vertreter des Islam in einem Landhaus seiner Familie im Iran zusammen, um mit ihnen die Möglichkeiten einer gemeinsamen Gesellschaft unter dem Zeichen der Toleranz zu diskutieren. Schnell wird klar, dass da, wo eine singende Frauenstimme schon als Bedrohung der (religiösen) Existenz erfahren wird, ein gemeinsamer öffentlicher Raum unmöglich wird. Die von der einen Seite geforderte Ordnung ist für die andere nur als unerträgliche Einschränkung erfahrbar. Wo Individualität und Selbsterfahrung schlicht keine Werte sind, dagegen Religion nahezu jedes Alltagsdetail regelt, sind Toleranzräume unvorstellbar. Alles liegt an der unhintergehbaren Vorentscheidung: vermeintlich gottgefälliges Leben oder Selbstbestimmung und Selbstsuche.
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"Iranien", Mehran Tamaden
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Dies machen dem sich nicht immer auf Augenhöhe argumentierenden Filmemacher von den geschulten Rhetorikern schnell klar gemacht. Immerhin, das Unglaubliche geschieht: es wird gemeinsam gescherzt, gekocht und geplaudert (stets allerdings unter (Selbst-) Ausschluss der Frauen). Die Vision eines möglichen Miteinanders ist zumindest partiell für diese kurze Zusammenkunft nicht gänzlich gescheitert. Ist selbst dies schon eine Gefahr? Der iranische Staat scheint dies so zu sehen und versagte dem bereits seit Jahren in Paris lebenden Filmemacher nach den Dreharbeiten für unabsehbare Zeit die Rückkehr in sein Land.
"Velvet Terrorists", Ivan Ostrochovsky
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Ebenso aussergewöhnlich ist Ivan Ostrochovský, Pavol Pekar?ik und Peter Kerekes Film « Zamatoví Teroristi » (Velvet Terrorists). Der slowakische, in Kooperation mit der Tschechischen Republik und Kroatien entstandene Dokumentarfilm bringt drei Männer ins Bild, die allesamt einst terroristische Anschläge gegen das Regime der Tschechoslowakei planten oder durchführten und dafür Haftstrafen absassen. Die drei unterschiedlichen Männer, die heute auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben ausser ihrem intakt gebliebenen Sinn für die Notwendigkeit des Widerstandes, geben Auskunft über ihre heutige Weltsicht, aber auch Einblick in ihr Privatleben. Diese Konfrontation mit Männern, die nicht nur Nein sagten, sondern auch die Konsequenzen zogen, und heute als Heroen gelten (…the same old story) ist ein fruchtbarer Beitrag für eine wirkliche „Terrorismus“-Debatte wie auch hilfreiche Provokation angesichts der aktuellen Tendenz zur apolitischer Apathie angesichts des planetaren Zustands.
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Michel Houellebecqs zwischen Selbstdarstellung und schauspielerischen Talent oszillierenden Auftritt in « L’enlèvement de Michel Houellebecq » (The Kidnapping of Michel Houellebecq) ist eine im besten Sinne amüsante Überraschung. Der schnöd und garstig höflich agierende Schriftsteller wird von Guillaume Nicloux als Persönlichkeit ins Bild gebracht, die es seinen Entführern, selbst ohne Widerstand zu leisten, nicht leicht macht. Schon bald sitzt er vertraulich mit ihnen am Esstisch und sorgt sich um sein sexuelles Wohlbefinden. Er wird zu Einem unter Gleichen: die Entführer erkennen, dass ihre « kriminellen Energien » von dem Intellektuellen leicht nachzuvollziehen sind. Diesem französischen Film gelingt es, als Potpourri von Wortwitz und Situationskomik zu überzeugen.
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"L’enlèvement de Michel Houellebecq", Gillaume Nicloux
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Freuen wir uns also auf das nächste Forum-Programm der Berlinale und hoffen auf Besserung für den Wettbewerb. |