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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I 35.EME EDITION DU CINEMA DU REEL I VON DIETER WIECZOREK I 2013

DAS DOKUMENTARISCHE UND DAS REALE

Das 35. Cinéma du Réel Festival in Paris

 

 

 

VON DIETER WIECZOREK

"Shunte ki Apo!" (Are you listening!), Karim Ahmad Simon

Are you listening

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Nicht ein Dokumentarfilmfestival, sondern ein Festival des Realen nennt sich das in Paris im März stattfindende "Cinéma du Réel". Bereits der Titel signalisiert, dass es um Erkundungsformen des Realen und seiner Repräsentation geht. Konsequenterweise hat sich das Festival in den letzten Jahren stets weiter geöffnet hin zu experimentelleren Formen der Wirklichkeitsevokation. Diese Tendenz kulminierte im Vorjahr in der Hauptpreisvergabe an Nicolas Reys "Autrement, la Molussie" (Differently, Molussia), ein von traditionellen Dokumentationsformen radikal abweichendes Werk, dessen Referenzraum nicht das Reale, sondern ein parabolisch literarischer Text ist: Günther Anders’ “The Molussian Catacomb” (1932 – 1936).

Unter der Bezeichnung "Dokumentarfilm" verbergen sich immer unverkennbarer denkbar unterschiedlichste Projekte. Der panoramische Dokumentarfilm sucht einen Themenkomplex mit einer Vielzahl von zusätzlichen Informationen zu erfassen, die längere Forschungsarbeiten voraussetzen. Diese "Informationen" werden zum Teil aus dem Off eingesprochen oder durch Befragung einer Vielzahl von Spezialisten und Zeugen zu einem dichten Geflecht von Verweisen gebündelt. Obwohl dieser Dokumentarfilmtypus eine wichtige und notwenige Ergänzung in Hinsicht auf die fragmentarische Informations-Bits-Berichterstattung der Medien darstellt, tun sich viele Dokumentarfilmfestivals mit diesem Typus schwer, da gerade seine Komplexität die weniger Informierten (die Festivalprogrammierer eingeschlossen) vor Verifikationsprobleme stellt und das Risiko einer bewusst täuschenden Realitätssuggestion kaum auszuschliessen ist.

Dagegen geht es dem singulären Dokumentarfilm um die Chance, eine spezifische Situation, die unter normalen Umständen unzugänglich ist, intensiv auszuleuchten. Dieser Typus beruht auf der Chance einer konkreten Begegnung oder Beobachtung.

Neben dem schon erwähnten experimentellen Dokumentarfilm, der sein Referenzen anders als ein System oder homogenes Feld figuriert, wäre weiterhin der engagierte Dokumentarfilm zu erwähnen, der seine Sympathien und Empathie für eine Gruppe oder Bestrebung explizit macht und "Wirklichkeit" in der Optik und im Interesse ihrer Veränderbarkeit darstellt. Hier wird interessengeleitete Subjektivität zum unverschleierten Motor. Der Film will Überzeugungsarbeit leisten und emotionell mobil machen.

Im «assoziativen Dokumentarfilm» wird ein Themenkomplex assoziativ mit anderen Phänomenen verknüpft. Hier ist ein thematisches Zentrum zwar vorhanden, jedoch wird dieses auf andere Schauplätze transponiert, in unterschiedlichen Kontexten entfaltet, entfremdet und zuweilen gebrochen. Das "Ciné du Réel" will auf keinen dieser Dokumentartypen verzichten. Doch der Schwerpunkt liegt zweiffellos beim singulären Dokumentarfilm. Gewiss sind Mischformen der angezeigten Typen die Regel und nicht die Ausnahme. Einen panoramischen Blick etwa eröffnet Dieudo Hamadis im Kongo entstandener Film "Ataluku". Er bebildert die chaotische Situation vor und während der dortigen sogenannten demokratischen Wahlen 2011. Weiche Bestechung, leere Versprechungen, Geldgeschenke, verschiedenen Formen der Wahltäuschung, Rauschszenarien und Propagandamusik kennzeichnen das Aktionsfeld. Selbst die zu kleinen Wahlurnen stellen ein Problem dar. Die Kamera folgt unterschiedlichen Akteuren und politischen Gruppen auf ihrem Weg durch den situativen Dschungel, zwischen Unübersichtlichkeit und analytischen Blick hin und her pendelnd. Dem Film wurde der "Prix Joris Ivens" zugesprochen.

Auch der französisch-portugiesische Film "Deportiert" (Deportado) Nathalie Mansoux’ nimmt sich eines spezifischen Phänomens an: der veränderten Rechtssprechung in den USA. Diese ermöglicht, dass Immigrierte selbst noch nach Jahrzehnten ihrer Haftentlassung auf Bewährung neu verurteilt, inhaftiert und in ihr Ursprungsland abgeschoben werden können, unabhängig davon, ob sie dort noch soziale Beziehungen haben oder dessen Sprache überhaupt mächtig sind. Mansoux verknüpft detaillierte Fakten mit den Alltagserfahrungen einiger Betroffener, denen sie in ihr neues Umfeld folgt, das zumeist in einem Auffanglager besteht.

Eine weitaus reinere Formen des singulären Dokumentarfilm bietet das französische Werk "Kelly" Stéphanie Régniers, die in langen Gesprächen den Lebensweg einer jungen peruanischen Frau rekonstruiert, die Prostitution in einer milderen Variante, als Emigrierte sie zumeist erfahren, kennen lernte und für sich akzeptierte. Sie schildert ihre Gefühle, Beobachtungen und Reflexionen in allen Fassetten, einschliesslich ihrer Kindheitserinnerungen und Zukunftshoffnungen. Ohne Selbstdarstellungszwang oder Intentionsdruck der Filmemacherin kann die Peruanerin die Fassetten ihrer Persönlichkeit auch in ihrer Widersprüchlichkeit frei entfalten. Der Film berührt durch seinen intimen Ton, der ein Vertrauensverhältnis voraus setzt. Besonders die junge Jury zeigte sich von diesem Film beeindruckt und vergab ihren "Youth Ward".  

Ben Rivers

"Wood", Daniel Kvitkos

In der gleichen Kategorie zu nennen wäre der kubanische Kurzfilm "Wood" (Madera) Daniel Kvitkos, der ein älteres Paar porträtiert, die als Waldhüter ein abgeschiedenes Leben führen irgendo in der Provinz Kubas. Lediglich die lokale Zeitung informiert sie über die Welt draussen. Anlässlich eines Artikels diskutieren sie die Vor- und Nachteile eines längeren Lebens, das die Genforschung verspricht. Weit entscheidender ist das ihnen bewusste Glück, in relativer Freiheit von sozialen Normen und den Anpassungszwängen der Zivilisation leben zu können.

 

 

 

Ein singulärer Dokumentarfilm ist gewiss auch Guillaume Bordiers "Le Reflex", in dem ein Ex-Gefangener im Detail, subtil und eloquent, die Phänomenologie des Haftlebens zu beschreiben vermag. Kurze Fragen nur unterbrechen diese dichte Selbstdarstellung des Lebens hinter Gittern, geführt in einem abgedunkelten, als Theaterkulisse konstruierten Raum. Die Umstände und Vorbereitungen zu dieser Begegnung werden selbst im Gespräch thematisch. Einige Hürden waren zu überwinden bis zur Bereitschaft der Befragung.

Zu Recht als "assoziativer Dokumentarfilm" kann "The Radiant" der Otolith Group (Grossbritannien) gelten. Japan steht hier im Zentrum, als Testfeld für genetische Forschung, appliziert an den Opfern des radioaktiven Fallouts. Weitere Themen wie die Unmöglichkeit, Erdbeben wirklich vorher sagen zu können und historische Propagandafilme zur Installierung der Nukleartechnik in Japan spannen einen weiten zeitlichen Rahmen, der durch experimentelle audio-visuelle Sequenzen als Mittel, Unsichtbares "sichtbar" zu machen, auch ästhetisch bereichert wird.

 

 

 

Haneke

"The Radiant", The Otolith Group

"Experimentell" im Sinne einer performativen Logik ist Ignacio Agüeros Film "The Other Day" (El otro día). Der chilenische Filmemacher folgt den zufällig an seiner Haustür erscheinenden, unbekannten Personen mit seiner Kamera in ihren Alltag. Unvoreingenommen und unvorbereitet nimmt er so „Realität“ und die jüngste Geschichte seines Landes aus sehr persönlicher Sicht wahr, ohne formendes und einschränkendes Konzept. So entsteht ein dokumentarisches Road Movie, das spannend ist schon allein aufgrund seiner Unvorhersehbarkeit.

Are You Listening

"Are You Listening !", Kamar Ahmad Simon

Der Grosse Preis des Festivals ging dieses Jahr an "Shunte ki Apo!" (Are you listening!) des bengalischen Filmemachers Kamar Ahmad Simon. Den lokalen Alltag, eine anhaltende Improvisation zwischen Hochwasserkatastrophen und Stürmen, begleitete der Filmemacher über 20 Monate hinweg. Im Chaos des alltäglichen Lebens der Betroffenen entdeckt er ein verblüffendes Spektrum der Vitalität. Selbst die ausbleibenden Hilfeleistungen der Regierung vermögen nicht, die Einheimischen in eine No-Future Stimmung zu treiben. Selbstaufgabe ist nicht angesagt im angespannten Kampf um eine mögliche Zukunft. Dem Regisseur vermag durch den während der Dreharbeiten vertrautlich gewordenen Umgang, besonders mit einer Kleinfamilie in der Ortschaft Sutarkhaliauch, auch private Momente der Heiterkeit und Lebenslust einzufangen.

 

Eine nachklingende Bildsequenz ist die solidarische Schwerarbeit, die Hunderte Menschen zusammenbringt, um einen aus Tausenden Säcken bestehenden riesigen Schlammstaudamm zu errichten, in der Hoffnung, sich gegen die nächste absehbare Flutwelle als Folge der globalen Erwärmung zumindest etwas zu schützen. Der Film eröffnete das 55. DOK Leipzig Festival und lief ebenfalls in der offiziellen Auswahl des Amsterdamer Dokumentarfilmfestival (IDFA) 2012. Das Guerilla-Style-Werk ohne vorgeschriebenes Skript nutzt jeden Zufall als Filmchance. Es entstand unter schwierigsten Bedingungen bis hin zu Wasser-, Nahrungs- und Elektrizitätsmangel. Ohne die tätige Hilfe der Bevölkerung hätte es nicht entstehen können. rouge

 

 

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CINE DU REEL 2013

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