Trotz häufigen Wechseln in des Direktoriums und der finanzmächtigen Konkurrenz des Festivals in Rom bleibt das Turin ein entscheidender Referenzort vor allem des italienischen Kurz-, und Dokumentarfilms, aufgeschlossen für experimentelle Filmsprachen und offene Strukturen, die an Assoziationsvermögen und Interpretationspotenziale appellieren.
Die italienische Kurzfilmsektion war wie bereits im Vorjahr durch innovative und reine Narrativität überschreitende Akzente charakterisiert. Ein bedrohlicher Rauschton durchzieht Fabio Badolatos und Jonny Costatinos Film « Il Firmamento », der sich auf Schwarzweiss reduzierend ein nacktes Paar porträtiert und die schutzlose Fragilität ihrer Körper mit einem apathischen Diskurs über die Möglichkeit der Liebe und Leidenschaft kontrapunktisiert und mit dem Aufschneiden des weiblichen Körpers (im Off) endet.
In Maria Giovanna Cicciari « In Nessun luogo resta » (Remains In No Place) erklingen Hölderlintexte, gemischt mit Takten Beethovens, zu Bildern von Vulkanausbrüchen und der versteinerter Körper der historischen Opfer in Pompei. Ciccari beschränkt sich gleichfalls auf Schwarzweiss und eine Super 8 Technik. Sie schafft ein audiovisuelles Memento Mori, mysteriös, dezent und assoziativ bis an die Grenze zur Entropie.
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"In nessun luogo resta" Giovanni Cicciari |
Ein erstaunliches Porträt eines vereinsamten Einzelgängers gelingt Cobol Pongide und Marco Santarelli in "Un mondo meglio che niente". Der gleiche Mann, der auf einer Bank in freier Natur sitzend zu seiner Biographie befragt wird, erscheint in anderen Sequenzen in Astronautenkleidung, das alltägliche Leben wie aus grosser Ferne kommentierend. Er wirft einen fremden Blick auf unsere Kultur, an der er, von einem eines fernen Planeten kommend, nicht Teil hat. Lebensferne und Andersartigkeit in der Selbstwahrnehmung werden hier in überraschender Weise verdichtet, die über ein Einzelporträt weit hinausgeht.
Der italienische Dokumentarfilm beeindruckte mit Filmen wie "Home Sweet Home" Enrica Colussos. Hier werden die politische Versprechungen der Abschaffung der im Süden Londons gelegenen "Elephant und Castle"-Armutszone mit der Wirklichkeit der schlichten Zwangsausquartierung von Hunderten von Familien konfrontiert. Das über vier Jahre gedrehte Werk erhält seine besondere Stärke durch Einzelporträts, wie das einer widerständigen Dame, die im bereits verwaisten und verwahrlosten Quartier ausharrt.
Giuseppe Casu kehrt zu einem Schlüsselereignis nicht nur der italienischen Lokalgeschichte zurück, zum durch alle Medien gegangenen Streik der Bergarbeiter im sardinischen San Giovanni im Jahr 1992, , die sich über Monate mit Dynamit im Bergwerk einschlossen, um auf ihre Krise und die abschaubare Misere der folgenden Generation aufmerksam zu machen. In "L’amore e la follia" resümieren die einstigen Streikenden ihren Kampf, ihren Stolz, ihre Enttäuschungen.
Der italienisch-ägyptische Beitrag "I Don’t Speal Very Good, I Dance Better" von Maged El-Mhedy bietet Einblick in eine weniger bekannte Seite der aktuellen ägyptischen Wirklichkeit. Ungefähr 25 % der dortigen Bevölkerung leiden unter Hepatitis als Resultat mangelhafter hygienischer Bedingungen, Umweltverschmutzung, Desinformation, mangelnder medizinischer Versorgung und Prävention. Sein komplexer Film vermischt unterschiedliche Wirklichkeiten und Zeitebenen, Dervish-Tanz, Choreographie und Familiengeschichte, Bilder der revolutionären Tage sowie Interviews mit Medizinern und Patienten.
"At the regime Border" Antonio Martinos |
Ein wichtiger Beitrag zu Situation in Syrien ist Antonio Martinos "At the Regime Border" (Isqat Al Nizams). Er zeigt die oftmals aus nicht zitierten Quellen stammenden Bilder der von der Armee praktizierten Folter und bestialischen Gewalt, sammelt Statements übergelaufener Soldaten, Offiziere und Generäle und gibt den Stimmen der verängstigten, zur Emigration gezwungene Bevölkerung Raum.
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Auch im internationalen Dokumentarfilmteil finden subjektive und individuelle Filmsprachen in Turin ihre gebührende Beachtung. Mark Cousins "What is this Film Called Love" (Grossbritannien) ist das Resultat eines ungeplanten Aufenthalt des Filmemachers in Mexiko City, erstellt in nur drei Tagen. Cousin läd den Betrachter ein zu einer ebenso poetischen wie mit Referenzen aus der Literatur- und Filmgeschichte angereichten Wirklichkeitswahrnehmung. Der Film gestaltet sich als imaginierten Dialog mit Sergej Eisenstein, der einst die gleichen Wege beschritt, sucht ihm gleichzeitig zu folgen wie ihm die heutige Welt zu erklären. Cousin schafft ein vitales und spontanes Werk, Beobachtungsgabe und Wissen verknüpfend zu Lebensintensität und Lebenslust.
Ebenso subjektiv ist der José Luis Giarcias dokumentarisches Tagebuch "La Chica del Sud" (Argentinien). Er beschreibt alle Schritte von ersten Eindruck bis zur Verwirklichung seines Filmes, all die Zufälle und Chancen, die letztlich einen unabhängigen Film möglich machen. Sein Thema ist eine junge Südkoreanerin, die 1989 aus eigener Initiative den halben Planeten umkreiste, um in das hinter der Kaltkriegsmauer liegende Nordkorea zu gelangen, mit nur einer Botschaft : das koreanische Volk gehört zusammen, alle Trennungen sind zu überwinden. Im Norden wurde sie enthusiastisch gefeiert. Garcia, zufällig am Ort anlässlich eines kommunistischen Jugendkongresses, den er gleichzeitig kritisch kommentiert, ist stark beeindruckt von dieser einzelgängerischen Frau. Als sie zu bald darauf unter Lebensgefahr ihr Versprechen wahrmacht, zu Fuss die Grenze zurück nach Südkorea zu überschreiten, wird sie dort unter "Spionageverdacht" sofort inhaftiert und verschwindet später für einige Zeit in einem buddhistischen Kloster. Ihr Sohn, das "Kommunistenkind", kommt bei einem Unfall ums Leben… Motive genug folglich für den Dokumentarfilmer, das Porträt dieser Frau zu seinem Thema zu machen. Aber von der Idee zur Realisation ist ein weiter Weg.
Unten den Featurefilmen markierte "The Pervert’s Guide to Ideology" Sophie Fiennes (Grossbritannien) das Festivalprogramm, der den Philosophen Slavoj Žižek in den Dekors der klassischen Filmszenen in Szene setzt. Žižek kommentiert von dort in luzider und immer wieder überraschender, ideologiekritischer und subversiver Weise, die Filmgeschichte und ihrer Meisterwerke. Seine Interpretationen wollen die verborgene Metabotschaften und Manipulationsmechanismen der simplen (nicht nur) Hollywoodgeschichten dechiffrieren. Seine Reflexionen sind Beispiel einer fröhlichen Intellektualität, pointiert und polemisch, um nur eine These zu nennen: die Titanic musste untergehen, um den Mythos einer romantischen, die Sozialschichten überwindenden Liebesgeschichte am Leben zu halten.
"Final Cut " György Palfis |
Der zweite Metafilm lässt sich auch als kritischer Kommentar der internationalen Filmlandschaft lesen, die immer wieder die gleiche Geschichte mit einer nicht allzu grossen Anzahl von Variationen erzählt. György Pálfis "Final Cut" (Ungarn) nimmt Hunderte von Filmzitaten zur Basis einer Nacherzählung der bekannten Liebesgeschichte in all ihren Phasen, beginnend mit scheuer Annäherung und Widerstand, über Verführung, Heirat und Fremdgang bis hin zu sei’s Zerwürfnis und Abweisung oder Versöhnung und Happy End. Der subtile Filmschnitt und die organische Komposition der Filmzitate schaffen einen überaus dynamischen und vitalen Film, der in atemberaubenden Tempo vorüber zieht.
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