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pxrouge FESTIVAL REVIEWS I CINE DU REEL I VON DIETER WIECZOREK I 2012

DIE FRAGE NACH DEM DOKUMENTARISCHEN

Das Pariser Festival Cine du Réel überrscht

 

 

VON DIETER WIECZOREK

"Autrement la molussie", Nicolas Rey

koch

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Der Hauptpreisträger der diesjährigen Edition des "Ciné du Réel" Festival überraschte und markiert eine neue Tendenz. Zunächst einmal exemplifiziert er, dass das Ciné du Réel Festival sich weniger als ein Dokumentarfilmfestival definiert, sondern als eines der Suche nach (neuen) Formen der Realitäts-Repräsentation.

Nicolas Rey (France) Film "Autrement, la molussie" ist vor allem ein überzeugendes Werk des « Cinéma de Difference », eines experimentierenden, mit innovativen Sichtweisen arbeitendes Filmschaffen. Sein Werk basiert auf dem aphoristisch zugespitzten, politisch-philosophische machtkritischen Fabel, "Die Molussische Katakombe" Günther Anders (Deutschland), entstanden zwischen 1932 und 1936. Der Text ist im Off zu hören, und wird in einigen Einstellungen auch von dem ins Bild kommenden Leser vorgetragen. Hinzu gesellen sich Bildfolgen eher insignifikanter ländlicher oder städtischer Szenerien, gemischt mit einem komplexen, parallelen Sound, wie etwa latent aggressivem, technischem Umweltlärm. Der Film ist in Segmente geteilt, deren Reihenfolge bei jeder Projektion neu zu bestimmen ist. Die Bildfolgen sind stark grobkörnig und wie durch Farbfilter transformiert, vorwiegend grau-oder grüntönig, und nutzen eine Skala von reiner Statik bis hin zu rotierenden Eigenbewegungen der Kamera. Rey "dokumentiert" in diesem Werk eigentlich lediglich das Vortragen des Textes, der in eine anonyme Landschaft transponiert wird.

Ben Rivers

"Two Years at Sea", Ben River

Auch Ben Rivers sieht seinen Film "Two Years at Sea" nicht als Dokumentarfilm. Der Titel ist irreführend, handelt er sich doch eher um ein meditatives Porträt des tief im schottischer Waldlandschaft lebenden Aussenseiters Jake, den Rivers bereits in vorhergehenden Kurzfilm "Origin of the species" (2008) porträtierte. Hier ganz auf Dialog verzichtend zeigt er in hart kontrastiertem Schwarz-Weiss auf 16 mm die harsche Alltäglichkeit Jakes, der gleichzeitig einen "performativ" kontemplativen Lebensstil entwickelt hat. Zur Beobachtung des Regens zieht er sich in eine im Baum installierte Hütte zurück, andere Tage nutzt er, um bewegungslos auf einem selbst gebauten Floss über einen nahe gelegenen See zu gleiten. Jack, mittlerweile mit der Kamera vertraut, spielt und inszeniert sich in gewisser Weise selbst. Diese Interferenz irritiert ein rein dokumentarisches Konzept, erlaubt aber gleichzeitig eine intime Selbstdarstellung eines Einzelgängers.

 

Diese mit Recht hervorzuhebenden Grenzgänger des Dokumentarischen sind gleichzeitig Signale dafür, dass immer weniger Dokumentarfilme ins Rampenlicht treten, die wirklich stören, was wiederum mit verursacht wird durch eine weltweite Tendenz, die den informierenden und engagierten Dokumentarfilm, der stören könnte, eher als "Reportage" markieren und an TV- und Internet-Medien zu adressiert, während ein eher meditativer, rein beobachtender, kaum kommentierender Filmstil, der in seinem Extremen von Voyeurismus nicht frei ist, als adäquate Form dokumentarischer Realitätsrepräsentation gilt. Diese Filmform kann Betroffenheit erzeugen, verzichtet aber auf Erhellung und analytische Durchdringung, die ohne Zugabe von nicht repräsentierbaren Fakten kaum möglich ist. Tausende Kameras, aber keine Positionen, liesse sich dieser Trend resümieren. Erinnert sei daran, dass bereits in den 80er Jahren die Kunstszene sich entpolitisierte und von (schwer verkäuflichen) Konfrontationen und wirklich kritischen Positionen abkehrte. Virulente und provozierende Arbeiten, existenzielle Selbstexperimente und unmittelbar in Realität intervenierende Projekte verschwanden langsam aber nachhaltig. In einer vergleichbaren Krise des Dokumentarischen scheint es evident, dass Jurys Werke goutieren, deren ästhetischer Anspruch wirkliche Alternativen und innovative Potenziale bieten.

Diesen Mangel wohl spürend, lud die Festivalleitung Nicole Brenez, Sektionsleiterin der Pariser Cinemateque, ein, in die Bresche zu springen und ein zehnteiliges Seitenprogramm betitelt "Exploring documentary : Combattants" zu entwickeln, das denjenigen Filmemachern gewidmet ist, die Widerstands- und Freiheitsbewegungen unter Inkaufnahme oftmals grosser Risiken begleiteten.

Unter der beträchtlichen Anzahl von Filmemacherporträts (Susana de Sousa Dias, John Gianvito, Dick Fontaine, Mario Ruspoli, Raúl Ruiz, Yann Le Masson und des Soundspezialisten Antoine Bonfanti) sei hier besonders die für viele wohl unbekannte Figur Mario Ruspolis (1925-1986) hervorzuheben, ein immer neugieriger mit pataphysischem Humor ausgestatteter Pioneer des Dokumentarfilms, bereits 1956 aktiv das Walabschlachtens (Les Homme et la baleine, 1956, Vive la baleine, 1972) wie die Lebensbedingungen in psychiatrischen Anstalt (Regard sue la Folie + La Fête prissonnière, 1962) anklagte. Ruspoli ersetzt den distanzierten Blick durch partizipierende Interventionen und schafft so bisher nicht gesehene Bilder intimer Vertrautheit, ebenso der psychisch Kranken wie eines Alkoholikers (Le dernier Verre, 1964), den er lange begleitete. Eine hervorragende und humorvolle Einführung in sein Schaffen bot Florence Dauman in ihrem gerade uraufgeführten Porträt "Mario Ruspoli, Prince des balaines et autres raretés".

Einer der intensivsten Begegnungen dieser Festivalausgabe war gewiss die mit Emad Burnat, dem unbändigen und nicht einzuschüchternden Aufzeichner des palästinensischen Widerstandes gegen die israelische militärische Okkupationsmacht. In Zusammenarbeit mit dem israelischen Dokumentarfilmer Guy Davidi entstand in "Five Broken Camras" eine über Jahre hinweg geschaffene, fast private Insidersicht auf seine Arbeit in vorderster Front. Der Titel ist keinesfalls metaphorisch. Bereits fünf seiner Kameras wurden während seiner Dreharbeiten zerstört. Eine unter ihnen rettete ihm wahrscheinlich das Leben, da eine abgefeuerte Kugel in ihr stecken blieb. Die Tatsachen des palästinensischen Widerstands sind bekannt, doch ist es eine andere Dimension, in Unmittelbarkeit den täglich Kampf um das Überleben sichernde Land mitzuerleben.

In der gleichen Reihe der "Ersten Filme" beeindruckte auch Antoine Bourges (Kanada) "East Hastings Pharmacy". Mit Kamera auf Schulternhöhe fängt er das problematische Verhältnis zwischen Alkoholikers und Drogenabhängigen und der die Ersatzsubstanzen ausgebenden Pharmazeutin in Vancouver ein. Ihre Dialoge schwangen von freundlicher Oberflächlichkeit bis hin zu massiver Bittstellung and Aggression. Auch Bourges Werk ist ein Grenzphänomen des Dokumentarischen, da die Abhängigen sich selbst spielen. Um die Kamera wissend spielen sie ihre eigenen Tragödien. Die Pharmazeutin dagegen ist professionelle Schauspielerin. Bourges bietet eine ambivalente Simulation des "Cinéma de vérité".

 

Haneke

East Hasting Pharmacy, Antoine Bourges

In der Wettbewerbs-Kurzfilmsektion sind drei Werke besonders erwähnenswert. In "Dusty Nights" bietet der Afghane Ali Hazara eine unkommentierte Sicht auf die Lebensbedingungen von Strassenarbeitern in Kabul. Ihr endloses nächtliches Staubkehren neben den ununterbrochen vorbeirollenden Schwertransportern, ihre Gespräche am Feuer, in denen auch ihre Entmündigung durch die Taliban zur Sprache kommen, bilden ein suggestives Bild eines eingefrorenen Nachkriegssituation ohne Zukunftsaussicht.

Die in den Niederlanden lebende Marta Jurkiewicz beschreibt in „Daughters“ ihr komplexes und zärtliches Verhältnis zu ihrer in Polen gebliebenen Mutter, deren emotionelle Welt eine ganz eigene Intensität hat. Durch den Tod ihrer eigenen Mutter fragilisiert, wie ganz verankert in ein familiäres Empfinden berührt diese Frau und erinnert ihre Tochter über die Entfernung hinweg an eine Verantwortung, die neue Komplizität schafft. Ihre Reise zurück zur Mutter wie zur eigenen Vergangenheit gestaltet Marta Jurkiewicz zugleich als Reflexion die drei Generationen trennenden kulturellen Sprünge. Super 8, telephonische Konversationen und digitale Bilder verschmelzend, gelingt ihr ein ebenso intimes wie authentisches Porträt privater Lebensformen und Konflikte, zu denen nur unmittelbar Vertraute Zugang haben. Eine weitere Grenzlinie des Dokumentarischen ist hier markiert: das nur durch Partizipation zu erfassende Reale. rouge

 

 

 

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CINE DU REEL 2012

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