An einem Ort, wo man es nicht unbedingt vermuten würde, in der idyllischen kroatischen Küstenkleinstadt Split, vom adriatischen Ancona zu erreichen mit einer nächtlichen Bootsfahrt, setzt man auf Stil. In Sommermonaten ständig überlaufen von durch dichte Gassen drängenden Touristen, findet sich eines der kompromißlosesten Festivals des Balkans, das über eine Woche hinweg Filme bietet, die weder mit Publikumsgunst noch mit wohlwollender administrativer lokaler Hilfe rechnen können. Bereits zum 15. Mal trägt hier vor allem der nimmermüde Direktor Branko Karabati?, gestützt von einem kleinen, aber aktiven Team, vorwiegend Werke zusammen, die ästhetische Risiken eingehen und mit Inhalten provozieren. Um Jugendprostitution geht es beispielsweise in dem polnischen Film Swinski (Piggies) von Robert Ginski, aber auch darum, wie Jugendliche selbst zu Zuhältern und schließlich Mördern werden. Der Mord als Lust und Stilübung, gefilmt vor Science-Fiction-durchtränkten Kulissen einer unüberschaubaren Metropole, deren Fassaden sich immer wieder zu übergroßen Leinwänden transformieren, steht im Mittelpunkt des israelischen Beitrags The Insomniac City Circles von Ran Slavin. Die Konfrontation mit dem eigenen Tod, Rückschau auf das zu kurze Leben, Bedauern und Rebellion sind Themen des in einer Krebsstation realisierten Dokumentarfilms Chemia (Chemo) von Pawel Lozinski. Sex im Iran, praktiziert in Ehen auf beschränkte Dauer, die von einer Stunde bis 99 Jahre dauern können und ganz legal sind, wird von Sudabeh Mortesal in dem in Österreich produzierten Film In the Bazaar of the Sexes beobachtet, kommentiert und in Dialogen entfaltet. Sex zwischen Drogen und Prostitution in Phnom Penh, erlebt und aufgezeichnet vom Magnum Agency-Fotographen Antoine d'Agata, werden wiederum selbst Thema in Tommaso Lusenas de Sarmientos und Giuseppe Schillarcis Film The Cambodian Room – Situations with Antoine d'Agata. In der gleichen ( »Reflektionen« betitelten) Sektion lief das subtile Porträt Jim Jarmuschs, das in nur zwei Drehtagen von Léa Rinaldi (Frankreich) realisiert wurde. Sie stellt dem Meister dort ihre sehr persönlichen und radikalen Fragen, fängt ebenso Kommentare und Reaktionen der engsten Mitarbeiter und Freunde Jarmuschs ein, und erstellt auf diese Weise eine dichte Skizze über den bescheiden und scheu Gebliebenen. In der Sektion »Libido Aroused« – man wird in der Tat die Rolle des (reflektierten) Sex in diesem Festival nicht bestreiten können – lief auch Erik Lamens Porträt eines belgischen Paares, daß durch seine eingestandene S/M-Beziehung einen nationalen Skandal heraufbeschwor. Die Frage nach dem Recht zur Selbstbestimmung des Privatlebens rief in Belgien radikale Gegner und Befürworter auf die mediale Plattform, vor allem da der Mann einer der bedeutsamsten belgischen Staatsanwälte war, den die von seiner Frau eingeklagte Leidenschaft um Ruf und Position brachte. Lavens bietet in SM Rechter (SM Richter) einen wichtigen Beitrag über Staatsgewalt im engeren Sinne, als Eindringen in die privateste Sphäre, die einem Normierungsdruck unterworfen wird.
Im stark europäisch geprägten Kurzfilmwettbewerbsprogramm fanden reflexive und innenweltbetonte Werke wie der portugiesische Film Voodoo, eine Konfrontation der Absolventen eines Flugpersonaltrainings mit ihren eigenen Ängsten und der Kühle der Existenz, ebenso Eingang wie vor allem durch fremdartige Ästhetik verblüffende Werke, wie das norwegische Werk Travelling Fields von Inger Lise Hansen, der eine auf dem Kopf stehende Kamerafahrt durch abgelegene Landschaften Nordrusslands zeigt, oder Werner Herzogs Konfrontation der äthiopischen Mursi Tribade mit Puccinis Komposition »La Bohème«, ein kalkuliert experimentelles Aufeinandertreffen zwischen den Polen einer kulturellen Kluft, in der sich die Mursi gelassen und mit Würde behaupten, als ob sie sich die Wucht der Komposition gelassen einverleiben würden. Ganz auf die Schattenlichtspiele der Nacht, auf Konturen an der Grenze der Identifizierbarkeit konzentriert bleibt Mauro Santinis Film Nocturno, ein minimalistisch mit Wahrnehmungsgrenzen spielendes Werk, dessen größtes »Ereignis« zwei Lichtkegel eines durch die Nacht gleitenden Fahrzeuges sind. Ein Höhepunkt des Wettbewerbs war sicherlich Jakub Piateks Matka (Mother), das ergreifende Porträt einer gealterten Mutter, die ungebrochen und ungeachtet ihrer Schwäche zu ihrem einsitzenden Sohn steht, zu dem sie nur auf für sie beschwerlichen Wegen zu gelangen vermag.
Im Langfilmwettbewerbsprogramm überzeugten der thailandische Film Jao Nok Krajok (Mundane History), die Geschichte der langsamen Öffnung eines gelähmten, depressiven jungen Mannes gegenüber seinem Pfleger gleichen Alters, dessen spontane und unkalkulierte Vertraulichkeit schließlich den Blick öffnet: hin zu einer kosmologisch-philosophischen Sicht auf persönliches Leid, in fulminanter Weise versinnbildlicht durch Bilder vom Tod eines Sternes zur Geburt eines menschlichen Wesens in den letzten zehn Filmminuten. Der russische Beitrag Mama wiederum schildert ohne Ausflucht die Isolation einer Mutter-Sohn-Beziehung auf engstem Raum, triste Enklave der Leblosigkeit und der gegenseitigen Abhängigkeit. Ein Meisterwerk der audiovisuell durchkomponierten Konspirationstheorie bietet die belgisch-deutsch-niederlandisch Koproduktion Double Take von Johan Grimoprez. Das Szenarium des Kalten Krieges, geprägt durch den möglichen Ausbruch des atomaren Krieges, ein paranoisch diagnostizierender Alfred Hitchcock, das Spiel mit der kalkulierten Angst als politischer Strategie, Katastrophenästhetik und extrapolierte Wahrnehmungssegmente der medialen Repräsentation verdichten sich hier zu einem virulenten audiovisuellen Cocktail, ästhetisch irritierend und reflexiv stimulierend zugleich, die das Werk zu einem der wichtigsten Beiträge eines »Cinéma de différence« des Jahres 2009 gemacht haben |